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Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820.

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tome gestörter Sensibilität. Ein vorzüglich gewöhn-
licher Zufall ist die sehr gesteigerte Receptivität der Sinnes-
organe, so daß das schwächste Geräusch, das Fallen eines
Buchs, das Oeffnen einer Thüre, eine starke Anrede u. s. w.
die Kranken wirklich schmerzhaft oder schreckhaft afficirt; eben
so pflegt es mit den übrigen Sinnen zu seyn: das Auge
verträgt weder helles Licht noch kräftige Farbe, nur was
matt, schwächlich, schmachtend aber zierlich ist, gefällt solchen
Kranken. Besonders aber ist auch die Empfindlichkeit im
Geruch und Geschmack gesteigert; schon der Geruch einer
Blume, noch weit mehr aber der von stärkern flüchtigen
Arzneystoffen, Campher, Moschus u. s. w. erregt oft Schwindel
und Ohnmachten, und überhaupt sind die sonderbarsten Idio-
synkrasien hier ganz in der Ordnung, so daß dagegen oft
wieder andere sehr widrige Dinge, z. B. Castoreum, Asa
foetida,
ganz leicht genommen werden. Zu dieser geschärf-
ten Sensibilität gehört auch das feinere Gefühl für die In-
dividualität anderer Personen, und sonstige äußere Verhält-
nisse, welche auf die Sinne eines gesunden Körpers keinen
Eindruck machen, in welcher Hinsicht wir wieder an das
erinnern müssen, was oben über Nervenzufälle in den Ent-
wicklungsperioden gesagt ist. Ferner gehören hierher die
mannigfaltigen Sinnestäuschungen, und die sehr erhöhte Em-
pfindlichkeit des innern Sinnes gegen alle Arten von Krank-
heitszuständen. Als Folgen der erstern nämlich sind die Fle-
cken, Funken, Bilder, Phantasmata vor den Augen, das
Doppeltsehen, das Brausen vor den Ohren u. s. w., als Fol-
gen der letztern die häufigen Klagen, zum Theil über ganz
eigene Krankheitsempfindungen, zu betrachten.

§. 300.

Diese besondern Krankheitsempfindungen beziehen sich
vornehmlich auf Kopf und Unterleib. Im erstern stellen sich
oft heftige, bohrende, immer auf einem Punkt fixirte Schmerzen
ein (Clavus hystericus), oder der Schmerz erscheint als
heftiges beschwerliches Ziehen in der Hinterhauptsgegend, als
Migräne, auch als äußerliches Reißen, Gefühl von Kälte,
Schmerzen längst des Rückenmarks, Empfindung von Amei-

tome geſtoͤrter Senſibilitaͤt. Ein vorzuͤglich gewoͤhn-
licher Zufall iſt die ſehr geſteigerte Receptivitaͤt der Sinnes-
organe, ſo daß das ſchwaͤchſte Geraͤuſch, das Fallen eines
Buchs, das Oeffnen einer Thuͤre, eine ſtarke Anrede u. ſ. w.
die Kranken wirklich ſchmerzhaft oder ſchreckhaft afficirt; eben
ſo pflegt es mit den uͤbrigen Sinnen zu ſeyn: das Auge
vertraͤgt weder helles Licht noch kraͤftige Farbe, nur was
matt, ſchwaͤchlich, ſchmachtend aber zierlich iſt, gefaͤllt ſolchen
Kranken. Beſonders aber iſt auch die Empfindlichkeit im
Geruch und Geſchmack geſteigert; ſchon der Geruch einer
Blume, noch weit mehr aber der von ſtaͤrkern fluͤchtigen
Arzneyſtoffen, Campher, Moſchus u. ſ. w. erregt oft Schwindel
und Ohnmachten, und uͤberhaupt ſind die ſonderbarſten Idio-
ſynkraſien hier ganz in der Ordnung, ſo daß dagegen oft
wieder andere ſehr widrige Dinge, z. B. Castoreum, Asa
foetida,
ganz leicht genommen werden. Zu dieſer geſchaͤrf-
ten Senſibilitaͤt gehoͤrt auch das feinere Gefuͤhl fuͤr die In-
dividualitaͤt anderer Perſonen, und ſonſtige aͤußere Verhaͤlt-
niſſe, welche auf die Sinne eines geſunden Koͤrpers keinen
Eindruck machen, in welcher Hinſicht wir wieder an das
erinnern muͤſſen, was oben uͤber Nervenzufaͤlle in den Ent-
wicklungsperioden geſagt iſt. Ferner gehoͤren hierher die
mannigfaltigen Sinnestaͤuſchungen, und die ſehr erhoͤhte Em-
pfindlichkeit des innern Sinnes gegen alle Arten von Krank-
heitszuſtaͤnden. Als Folgen der erſtern naͤmlich ſind die Fle-
cken, Funken, Bilder, Phantasmata vor den Augen, das
Doppeltſehen, das Brauſen vor den Ohren u. ſ. w., als Fol-
gen der letztern die haͤufigen Klagen, zum Theil uͤber ganz
eigene Krankheitsempfindungen, zu betrachten.

§. 300.

Dieſe beſondern Krankheitsempfindungen beziehen ſich
vornehmlich auf Kopf und Unterleib. Im erſtern ſtellen ſich
oft heftige, bohrende, immer auf einem Punkt fixirte Schmerzen
ein (Clavus hystericus), oder der Schmerz erſcheint als
heftiges beſchwerliches Ziehen in der Hinterhauptsgegend, als
Migraͤne, auch als aͤußerliches Reißen, Gefuͤhl von Kaͤlte,
Schmerzen laͤngſt des Ruͤckenmarks, Empfindung von Amei-

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[234/0254] tome geſtoͤrter Senſibilitaͤt. Ein vorzuͤglich gewoͤhn- licher Zufall iſt die ſehr geſteigerte Receptivitaͤt der Sinnes- organe, ſo daß das ſchwaͤchſte Geraͤuſch, das Fallen eines Buchs, das Oeffnen einer Thuͤre, eine ſtarke Anrede u. ſ. w. die Kranken wirklich ſchmerzhaft oder ſchreckhaft afficirt; eben ſo pflegt es mit den uͤbrigen Sinnen zu ſeyn: das Auge vertraͤgt weder helles Licht noch kraͤftige Farbe, nur was matt, ſchwaͤchlich, ſchmachtend aber zierlich iſt, gefaͤllt ſolchen Kranken. Beſonders aber iſt auch die Empfindlichkeit im Geruch und Geſchmack geſteigert; ſchon der Geruch einer Blume, noch weit mehr aber der von ſtaͤrkern fluͤchtigen Arzneyſtoffen, Campher, Moſchus u. ſ. w. erregt oft Schwindel und Ohnmachten, und uͤberhaupt ſind die ſonderbarſten Idio- ſynkraſien hier ganz in der Ordnung, ſo daß dagegen oft wieder andere ſehr widrige Dinge, z. B. Castoreum, Asa foetida, ganz leicht genommen werden. Zu dieſer geſchaͤrf- ten Senſibilitaͤt gehoͤrt auch das feinere Gefuͤhl fuͤr die In- dividualitaͤt anderer Perſonen, und ſonſtige aͤußere Verhaͤlt- niſſe, welche auf die Sinne eines geſunden Koͤrpers keinen Eindruck machen, in welcher Hinſicht wir wieder an das erinnern muͤſſen, was oben uͤber Nervenzufaͤlle in den Ent- wicklungsperioden geſagt iſt. Ferner gehoͤren hierher die mannigfaltigen Sinnestaͤuſchungen, und die ſehr erhoͤhte Em- pfindlichkeit des innern Sinnes gegen alle Arten von Krank- heitszuſtaͤnden. Als Folgen der erſtern naͤmlich ſind die Fle- cken, Funken, Bilder, Phantasmata vor den Augen, das Doppeltſehen, das Brauſen vor den Ohren u. ſ. w., als Fol- gen der letztern die haͤufigen Klagen, zum Theil uͤber ganz eigene Krankheitsempfindungen, zu betrachten. §. 300. Dieſe beſondern Krankheitsempfindungen beziehen ſich vornehmlich auf Kopf und Unterleib. Im erſtern ſtellen ſich oft heftige, bohrende, immer auf einem Punkt fixirte Schmerzen ein (Clavus hystericus), oder der Schmerz erſcheint als heftiges beſchwerliches Ziehen in der Hinterhauptsgegend, als Migraͤne, auch als aͤußerliches Reißen, Gefuͤhl von Kaͤlte, Schmerzen laͤngſt des Ruͤckenmarks, Empfindung von Amei-

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie01_1820/254>, abgerufen am 21.11.2024.