obwohl sie ursprünglich ziemlich bey denselben Subjekten und unter ähnlichen Verhältnissen wie die obgedachten entstehen, dann ganz andere Erscheinungen hervor, unter welchen vor- züglich die religiöse Schwärmerey eine eigene und häufig vor- kommende Form darstellt. Man bemerkt sie vorzüglich bey Mädchen, welche bey einer mit unverständlichen Religions- begriffen überfüllten Phantasie von irgend einem Unglücksfall schwer betroffen werden, oder bey andern Individuen, welche bey reitzbarem Gemüth und einem vielleicht früher weniger als recht um göttliche Dinge bekümmerten Sinne, nun durch mystische Prediger plötzlich aufgeschreckt wurden *). Ihr gan- zes Wesen scheint dann dem Irdischen entzogen, eine Liebe, deren Inbrunst an Geschlechtsliebe erinnert, ist den Heiligen oder dem Heilande zugewendet, und nur die nähere Erwä- gung, daß in diesem Zustande weder Klarheit und Ruhe, noch vernunftgemäße Willensfreyheit und Besonnenheit obwal- tet, kann gegen den leicht bestechenden Reitz, ja gegen die geistige Erhebung einer schönen Schwärmerin, diesen Zustand als krankhaft darstellen. -- Mitunter aber richtet sich wohl auch dieses Bestreben auf Kunst der Sprache oder der Musik, so hörte man von solchen exaltirten Kranken lange Gedichte improvisiren, und mit feurigem Ausdrucke vortragen, man hörte sie mit weit schönerem Ausdruck und mehr Kunst als im natürlichen Zustande singen, ja Instrumente spielen und Sprachen reden **), darin sie sonst wenig geübt waren; ob- wohl dieses insgemein schnell vorübergehende Zustände sind, und zum Theil als bloße Symptome mit der Sucht nach Auszeichnung oder der religiösen Schwärmerey, oder körperli- chen Krankheiten sich verbinden.
§. 238.
Wir kommen nun zu den Abnormitäten, welche auf der Nachtseite des Lebens bey weiblichen, in der Entwick- lungsperiode begriffenen Individuen nicht selten bemerkt wer-
*) So sah man ja noch neuerlich, durch eine bekannte Schwärmerin angeregt, junge Mädchen dem Hause ihrer Eltern entweichen, und sich für Bräute Christi erklären.
**)Osiander a. a. O. Th. 1. S. 94.
obwohl ſie urſpruͤnglich ziemlich bey denſelben Subjekten und unter aͤhnlichen Verhaͤltniſſen wie die obgedachten entſtehen, dann ganz andere Erſcheinungen hervor, unter welchen vor- zuͤglich die religioͤſe Schwaͤrmerey eine eigene und haͤufig vor- kommende Form darſtellt. Man bemerkt ſie vorzuͤglich bey Maͤdchen, welche bey einer mit unverſtaͤndlichen Religions- begriffen uͤberfuͤllten Phantaſie von irgend einem Ungluͤcksfall ſchwer betroffen werden, oder bey andern Individuen, welche bey reitzbarem Gemuͤth und einem vielleicht fruͤher weniger als recht um goͤttliche Dinge bekuͤmmerten Sinne, nun durch myſtiſche Prediger ploͤtzlich aufgeſchreckt wurden *). Ihr gan- zes Weſen ſcheint dann dem Irdiſchen entzogen, eine Liebe, deren Inbrunſt an Geſchlechtsliebe erinnert, iſt den Heiligen oder dem Heilande zugewendet, und nur die naͤhere Erwaͤ- gung, daß in dieſem Zuſtande weder Klarheit und Ruhe, noch vernunftgemaͤße Willensfreyheit und Beſonnenheit obwal- tet, kann gegen den leicht beſtechenden Reitz, ja gegen die geiſtige Erhebung einer ſchoͤnen Schwaͤrmerin, dieſen Zuſtand als krankhaft darſtellen. — Mitunter aber richtet ſich wohl auch dieſes Beſtreben auf Kunſt der Sprache oder der Muſik, ſo hoͤrte man von ſolchen exaltirten Kranken lange Gedichte improviſiren, und mit feurigem Ausdrucke vortragen, man hoͤrte ſie mit weit ſchoͤnerem Ausdruck und mehr Kunſt als im natuͤrlichen Zuſtande ſingen, ja Inſtrumente ſpielen und Sprachen reden **), darin ſie ſonſt wenig geuͤbt waren; ob- wohl dieſes insgemein ſchnell voruͤbergehende Zuſtaͤnde ſind, und zum Theil als bloße Symptome mit der Sucht nach Auszeichnung oder der religioͤſen Schwaͤrmerey, oder koͤrperli- chen Krankheiten ſich verbinden.
§. 238.
Wir kommen nun zu den Abnormitaͤten, welche auf der Nachtſeite des Lebens bey weiblichen, in der Entwick- lungsperiode begriffenen Individuen nicht ſelten bemerkt wer-
*) So ſah man ja noch neuerlich, durch eine bekannte Schwaͤrmerin angeregt, junge Maͤdchen dem Hauſe ihrer Eltern entweichen, und ſich fuͤr Braͤute Chriſti erklaͤren.
**)Oſiander a. a. O. Th. 1. S. 94.
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obwohl ſie urſpruͤnglich ziemlich bey denſelben Subjekten und
unter aͤhnlichen Verhaͤltniſſen wie die obgedachten entſtehen,
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zuͤglich die religioͤſe Schwaͤrmerey eine eigene und haͤufig vor-
kommende Form darſtellt. Man bemerkt ſie vorzuͤglich bey
Maͤdchen, welche bey einer mit unverſtaͤndlichen Religions-
begriffen uͤberfuͤllten Phantaſie von irgend einem Ungluͤcksfall
ſchwer betroffen werden, oder bey andern Individuen, welche
bey reitzbarem Gemuͤth und einem vielleicht fruͤher weniger
als recht um goͤttliche Dinge bekuͤmmerten Sinne, nun durch
myſtiſche Prediger ploͤtzlich aufgeſchreckt wurden *). Ihr gan-
zes Weſen ſcheint dann dem Irdiſchen entzogen, eine Liebe,
deren Inbrunſt an Geſchlechtsliebe erinnert, iſt den Heiligen
oder dem Heilande zugewendet, und nur die naͤhere Erwaͤ-
gung, daß in dieſem Zuſtande weder Klarheit und Ruhe,
noch vernunftgemaͤße Willensfreyheit und Beſonnenheit obwal-
tet, kann gegen den leicht beſtechenden Reitz, ja gegen die
geiſtige Erhebung einer ſchoͤnen Schwaͤrmerin, dieſen Zuſtand
als krankhaft darſtellen. — Mitunter aber richtet ſich wohl
auch dieſes Beſtreben auf Kunſt der Sprache oder der Muſik,
ſo hoͤrte man von ſolchen exaltirten Kranken lange Gedichte
improviſiren, und mit feurigem Ausdrucke vortragen, man
hoͤrte ſie mit weit ſchoͤnerem Ausdruck und mehr Kunſt als
im natuͤrlichen Zuſtande ſingen, ja Inſtrumente ſpielen und
Sprachen reden **), darin ſie ſonſt wenig geuͤbt waren; ob-
wohl dieſes insgemein ſchnell voruͤbergehende Zuſtaͤnde ſind,
und zum Theil als bloße Symptome mit der Sucht nach
Auszeichnung oder der religioͤſen Schwaͤrmerey, oder koͤrperli-
chen Krankheiten ſich verbinden.
§. 238.
Wir kommen nun zu den Abnormitaͤten, welche auf
der Nachtſeite des Lebens bey weiblichen, in der Entwick-
lungsperiode begriffenen Individuen nicht ſelten bemerkt wer-
*) So ſah man ja noch neuerlich, durch eine bekannte Schwaͤrmerin
angeregt, junge Maͤdchen dem Hauſe ihrer Eltern entweichen, und
ſich fuͤr Braͤute Chriſti erklaͤren.
**) Oſiander a. a. O. Th. 1. S. 94.
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Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie01_1820/199>, abgerufen am 21.11.2024.
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