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Dimitrie [Moldau, Woiwode], (Cantemir, Dimitrie): Geschichte des osmanischen Reichs nach seinem Anwachse und Abnehmen. Hamburg, 1745.

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8. Bajeßid der II
wissen, was zu Constantinopel vorgehe), daß man denselben zu ihm bringen
solle. Als er zu ihm kommt, und gefraget wird; wie die türkischen Sachen
gegenwärtig stünden: so giebet er zur Antwort; er hätte einige Jahre her zu
Constantinopel das Barbieren in den öffentlichen Stuben getrieben, und sich
niemals um andere Dinge bekümmert, als um die Verbesserung seiner Kunst,
und wie er sich seine Freyheit verschaffen möchte, die er auch nach langem Har-
ren durch Hülfe einiger guten Leute erlanget hätte, so daß er nunmehr seines
Vaterlandes genießen und die christliche Religion frey bekennen dürfte. Hierauf
versetzet Dschem: Was euren Gottesdienst und eure Bekenntniß der Religion
betrifft; darum bekümmere ich mich nicht: denn Gott hat iedwedem Menschen
einen freyen Willen 18 gegeben. Weil ich aber in einem Lande lebe, da die
Barbier mir sehr ungeschickt vorkommen: so wünschte ich nur bloß, euch zu
meinem Barbier zu haben. Denn da ihr euch einige Zeit unter meinen Landes-
[Spaltenumbruch]
schen nennen sie Nemtsche*; die Franzosen,
Firansiß2*; die Spanier, Espaniol; die Eng-
länder, Ingjiliß; die Holländer oder Flä-
minger, Nidirlanda oder Filimenkj; die Sach-
sen, Saks; die Schweden, Iswetsch3*; die
Polen, Leh oder Lih; die Ungarn, Madschar;
die Russen, Moskowli; die Kosaken, Kaßak;
und so die übrigen.
18 freyen Willen] Iradeti gjütschlü4*
oder gjütschlü Iktidar5*. Ungeachtet die
Türken nach Inhalt des Kurons glauben, daß
nichts, weder Gutes noch Böses, dem göttli-
chen Rathschlusse zuwider geschehen könne,
kraft dieses Spruchs: Chäjrü Scherr min
Allah, Gutes und Böses kommt von Gott:
so geben sie dennoch einen freyen Willen in
dem Menschen zu, und dieses aus der Ursa-
che; damit die Kjüffar (Unglaubigen, näm-
lich die Christen und alle Muhämmedischen,
die keine Müsülmanen sind) am letzten Ge-
richte sich nicht entschuldigen können, daß sie
die muhämmedische Lehre nicht angenommen
haben, mit der Einwendung, daß sie keinen
[Spaltenumbruch]
freyen Willen gehabt hätten. Ich fragte ei-
nige der gelehrtesten Ausleger des Kurons,
bey den Türken Tefsirdschi Kuron genennet:
ob ein Mensch das mindeste dem göttlichen
Willen zuwider reden oder thun könne, oder
nicht? allein, ich konnte niemals von ihnen
eine runde Antwort darauf erhalten. Sie
pflegten zu sagen: Dschennet häk, Dschehennem
häk; das Paradies ist gewiß, und die Hölle
ist auch gewiß: die letztere ist nicht umsonst,
sondern zu einem gewissen Gebrauche von
Gott gemacht worden; wenn es nun zu
einem gewissen Endzwecke geschehen ist: so
konnte dieser kein anderer seyn, als die Stra-
fe derer, die zu derselben bestimmet sind.
Wenn man nun weiter fraget: wie doch ihre
Meinung von dem freyen Willen sich mit die-
sem Satze vereinigen lasse; so setzen sie das-
jenige, davon die Frage ist, voraus, und sa-
gen: iedermann könne selig werden, wer nur
wolle; es werde aber auch kein Mensch selig,
als den Gott zur Seligkeit bestimmet habe.
Endlich machen sie den Schluß mit diesem
Grundsatze: Täkdir Tedbiri boßar6*; das ist,

leuten
* imgleichen Alaman.
2* auch Frantsche.
3* Ischfed.
4* ein mächtiger Wille.
5* ein mächtiges Vermögen.
6* 60 S. 23 Anm.
Z 3

8. Bajeßid der II
wiſſen, was zu Conſtantinopel vorgehe), daß man denſelben zu ihm bringen
ſolle. Als er zu ihm kommt, und gefraget wird; wie die tuͤrkiſchen Sachen
gegenwaͤrtig ſtuͤnden: ſo giebet er zur Antwort; er haͤtte einige Jahre her zu
Conſtantinopel das Barbieren in den oͤffentlichen Stuben getrieben, und ſich
niemals um andere Dinge bekuͤmmert, als um die Verbeſſerung ſeiner Kunſt,
und wie er ſich ſeine Freyheit verſchaffen moͤchte, die er auch nach langem Har-
ren durch Huͤlfe einiger guten Leute erlanget haͤtte, ſo daß er nunmehr ſeines
Vaterlandes genießen und die chriſtliche Religion frey bekennen duͤrfte. Hierauf
verſetzet Dſchem: Was euren Gottesdienſt und eure Bekenntniß der Religion
betrifft; darum bekuͤmmere ich mich nicht: denn Gott hat iedwedem Menſchen
einen freyen Willen 18 gegeben. Weil ich aber in einem Lande lebe, da die
Barbier mir ſehr ungeſchickt vorkommen: ſo wuͤnſchte ich nur bloß, euch zu
meinem Barbier zu haben. Denn da ihr euch einige Zeit unter meinen Landes-
[Spaltenumbruch]
ſchen nennen ſie Nemtſche*; die Franzoſen,
Firanſiß2*; die Spanier, Eſpaniol; die Eng-
laͤnder, Ingjiliß; die Hollaͤnder oder Flaͤ-
minger, Nidirlanda oder Filimenkj; die Sach-
ſen, Saks; die Schweden, Iswetſch3*; die
Polen, Leh oder Lih; die Ungarn, Madſchar;
die Ruſſen, Moskowli; die Koſaken, Kaßak;
und ſo die uͤbrigen.
18 freyen Willen] Iradeti gjuͤtſchluͤ4*
oder gjuͤtſchluͤ Iktidar5*. Ungeachtet die
Tuͤrken nach Inhalt des Kurons glauben, daß
nichts, weder Gutes noch Boͤſes, dem goͤttli-
chen Rathſchluſſe zuwider geſchehen koͤnne,
kraft dieſes Spruchs: Chaͤjruͤ Scherr min
Allah, Gutes und Boͤſes kommt von Gott:
ſo geben ſie dennoch einen freyen Willen in
dem Menſchen zu, und dieſes aus der Urſa-
che; damit die Kjuͤffar (Unglaubigen, naͤm-
lich die Chriſten und alle Muhaͤmmediſchen,
die keine Muͤſuͤlmanen ſind) am letzten Ge-
richte ſich nicht entſchuldigen koͤnnen, daß ſie
die muhaͤmmediſche Lehre nicht angenommen
haben, mit der Einwendung, daß ſie keinen
[Spaltenumbruch]
freyen Willen gehabt haͤtten. Ich fragte ei-
nige der gelehrteſten Ausleger des Kurons,
bey den Tuͤrken Tefſirdſchi Kuron genennet:
ob ein Menſch das mindeſte dem goͤttlichen
Willen zuwider reden oder thun koͤnne, oder
nicht? allein, ich konnte niemals von ihnen
eine runde Antwort darauf erhalten. Sie
pflegten zu ſagen: Dſchennet haͤk, Dſchehennem
haͤk; das Paradies iſt gewiß, und die Hoͤlle
iſt auch gewiß: die letztere iſt nicht umſonſt,
ſondern zu einem gewiſſen Gebrauche von
Gott gemacht worden; wenn es nun zu
einem gewiſſen Endzwecke geſchehen iſt: ſo
konnte dieſer kein anderer ſeyn, als die Stra-
fe derer, die zu derſelben beſtimmet ſind.
Wenn man nun weiter fraget: wie doch ihre
Meinung von dem freyen Willen ſich mit die-
ſem Satze vereinigen laſſe; ſo ſetzen ſie das-
jenige, davon die Frage iſt, voraus, und ſa-
gen: iedermann koͤnne ſelig werden, wer nur
wolle; es werde aber auch kein Menſch ſelig,
als den Gott zur Seligkeit beſtimmet habe.
Endlich machen ſie den Schluß mit dieſem
Grundſatze: Taͤkdir Tedbiri boßar6*; das iſt,

leuten
* imgleichen Alaman.
2* auch Frantſche.
3* Iſchfed.
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6* 60 S. 23 Anm.
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[181/0267] 8. Bajeßid der II wiſſen, was zu Conſtantinopel vorgehe), daß man denſelben zu ihm bringen ſolle. Als er zu ihm kommt, und gefraget wird; wie die tuͤrkiſchen Sachen gegenwaͤrtig ſtuͤnden: ſo giebet er zur Antwort; er haͤtte einige Jahre her zu Conſtantinopel das Barbieren in den oͤffentlichen Stuben getrieben, und ſich niemals um andere Dinge bekuͤmmert, als um die Verbeſſerung ſeiner Kunſt, und wie er ſich ſeine Freyheit verſchaffen moͤchte, die er auch nach langem Har- ren durch Huͤlfe einiger guten Leute erlanget haͤtte, ſo daß er nunmehr ſeines Vaterlandes genießen und die chriſtliche Religion frey bekennen duͤrfte. Hierauf verſetzet Dſchem: Was euren Gottesdienſt und eure Bekenntniß der Religion betrifft; darum bekuͤmmere ich mich nicht: denn Gott hat iedwedem Menſchen einen freyen Willen ¹⁸ gegeben. Weil ich aber in einem Lande lebe, da die Barbier mir ſehr ungeſchickt vorkommen: ſo wuͤnſchte ich nur bloß, euch zu meinem Barbier zu haben. Denn da ihr euch einige Zeit unter meinen Landes- leuten ſchen nennen ſie Nemtſche *; die Franzoſen, Firanſiß 2*; die Spanier, Eſpaniol; die Eng- laͤnder, Ingjiliß; die Hollaͤnder oder Flaͤ- minger, Nidirlanda oder Filimenkj; die Sach- ſen, Saks; die Schweden, Iswetſch 3*; die Polen, Leh oder Lih; die Ungarn, Madſchar; die Ruſſen, Moskowli; die Koſaken, Kaßak; und ſo die uͤbrigen. ¹⁸ freyen Willen] Iradeti gjuͤtſchluͤ 4* oder gjuͤtſchluͤ Iktidar 5*. Ungeachtet die Tuͤrken nach Inhalt des Kurons glauben, daß nichts, weder Gutes noch Boͤſes, dem goͤttli- chen Rathſchluſſe zuwider geſchehen koͤnne, kraft dieſes Spruchs: Chaͤjruͤ Scherr min Allah, Gutes und Boͤſes kommt von Gott: ſo geben ſie dennoch einen freyen Willen in dem Menſchen zu, und dieſes aus der Urſa- che; damit die Kjuͤffar (Unglaubigen, naͤm- lich die Chriſten und alle Muhaͤmmediſchen, die keine Muͤſuͤlmanen ſind) am letzten Ge- richte ſich nicht entſchuldigen koͤnnen, daß ſie die muhaͤmmediſche Lehre nicht angenommen haben, mit der Einwendung, daß ſie keinen freyen Willen gehabt haͤtten. Ich fragte ei- nige der gelehrteſten Ausleger des Kurons, bey den Tuͤrken Tefſirdſchi Kuron genennet: ob ein Menſch das mindeſte dem goͤttlichen Willen zuwider reden oder thun koͤnne, oder nicht? allein, ich konnte niemals von ihnen eine runde Antwort darauf erhalten. Sie pflegten zu ſagen: Dſchennet haͤk, Dſchehennem haͤk; das Paradies iſt gewiß, und die Hoͤlle iſt auch gewiß: die letztere iſt nicht umſonſt, ſondern zu einem gewiſſen Gebrauche von Gott gemacht worden; wenn es nun zu einem gewiſſen Endzwecke geſchehen iſt: ſo konnte dieſer kein anderer ſeyn, als die Stra- fe derer, die zu derſelben beſtimmet ſind. Wenn man nun weiter fraget: wie doch ihre Meinung von dem freyen Willen ſich mit die- ſem Satze vereinigen laſſe; ſo ſetzen ſie das- jenige, davon die Frage iſt, voraus, und ſa- gen: iedermann koͤnne ſelig werden, wer nur wolle; es werde aber auch kein Menſch ſelig, als den Gott zur Seligkeit beſtimmet habe. Endlich machen ſie den Schluß mit dieſem Grundſatze: Taͤkdir Tedbiri boßar 6*; das iſt, die * imgleichen Alaman. 2* auch Frantſche. 3* Iſchfed. 4* ein maͤchtiger Wille. 5* ein maͤchtiges Vermoͤgen. 6* 60 S. 23 Anm. Z 3

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Zitationshilfe: Dimitrie [Moldau, Woiwode], (Cantemir, Dimitrie): Geschichte des osmanischen Reichs nach seinem Anwachse und Abnehmen. Hamburg, 1745, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cantemir_geschichte_1745/267>, abgerufen am 22.11.2024.