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Candidus, Karl: Der deutsche Christus. Fünfzehn Canzonen. Leipzig, 1844.

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benschläfer zu wecken, und an ihrer unverwitterten
gestalt, als lautersten denkmälern, die regel und den
ganzen wollaut unserer alten sprache zu erforschen.
solange deutsche zunge dauert, werden diese ehrwür¬
digen gedichte gelesen werden und nimmer untergehn.
O des wandels! eine edle hehre dichtung, die vor
erst hundert jahren in allen händen war, und mit mäch¬
tigem ruck durch ihren angebornen adel unsere gesamte
poesie empor gehoben hat, beginnt, wer wollte es sich
verbergen?, ungelesen zu sein und zu versinken. Klop¬
stocks Messias, nachdem er so grosze, in ihm und zu¬
gleich auszer ihm gelegene Wirkung auf seine zeit her¬
vorgebracht hatte, hört fortzuleben auf, und wir müssen
ihn heute für ein verfehltes werk erklären. sein dichter
wähnte dadurch, dasz er in der evangelisten heilige
berichterstattung eine reihe englischer, menschlicher und
teuflischer wesen schaltete, ein wahrhaftes epos zu er¬
zeugen, da doch die zwischentretenden gestalten immer
nur scheinthätig sind, d. h. alles was geschieht eben¬
so wol auch ohne sie geschehen müste oder geschehen
wäre. diese schwebenden und betenden cherubim und
seraphim bis auf unser überempfindsames urelternpaar
herab halten nicht wider, sie sind lauter fünfte räder am
wagen und werden durch ihre erdichtung und unwahr¬
heit uns auf die länge unerträglich, jedes epos aber
fordert ungestörten glauben. Klopstocks Christus selbst,
so erhaben und gefühlvoll er gehalten sei, ist doch we¬
der geistig fein genug, noch menschlich blühend, dasz
beide naturen einander tief durchdrängen.

Christus ist gar nicht episch darzustellen, nur
lyrisch, denn aller mythischen auffassung entgegen
strebt die unverrückbare bestimmtheit unserer religion.

benschläfer zu wecken, und an ihrer unverwitterten
gestalt, als lautersten denkmälern, die regel und den
ganzen wollaut unserer alten sprache zu erforschen.
solange deutsche zunge dauert, werden diese ehrwür¬
digen gedichte gelesen werden und nimmer untergehn.
O des wandels! eine edle hehre dichtung, die vor
erst hundert jahren in allen händen war, und mit mäch¬
tigem ruck durch ihren angebornen adel unsere gesamte
poesie empor gehoben hat, beginnt, wer wollte es sich
verbergen?, ungelesen zu sein und zu versinken. Klop¬
stocks Messias, nachdem er so grosze, in ihm und zu¬
gleich auszer ihm gelegene Wirkung auf seine zeit her¬
vorgebracht hatte, hört fortzuleben auf, und wir müssen
ihn heute für ein verfehltes werk erklären. sein dichter
wähnte dadurch, dasz er in der evangelisten heilige
berichterstattung eine reihe englischer, menschlicher und
teuflischer wesen schaltete, ein wahrhaftes epos zu er¬
zeugen, da doch die zwischentretenden gestalten immer
nur scheinthätig sind, d. h. alles was geschieht eben¬
so wol auch ohne sie geschehen müste oder geschehen
wäre. diese schwebenden und betenden cherubim und
seraphim bis auf unser überempfindsames urelternpaar
herab halten nicht wider, sie sind lauter fünfte räder am
wagen und werden durch ihre erdichtung und unwahr¬
heit uns auf die länge unerträglich, jedes epos aber
fordert ungestörten glauben. Klopstocks Christus selbst,
so erhaben und gefühlvoll er gehalten sei, ist doch we¬
der geistig fein genug, noch menschlich blühend, dasz
beide naturen einander tief durchdrängen.

Christus ist gar nicht episch darzustellen, nur
lyrisch, denn aller mythischen auffassung entgegen
strebt die unverrückbare bestimmtheit unserer religion.

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[VI/0012] benschläfer zu wecken, und an ihrer unverwitterten gestalt, als lautersten denkmälern, die regel und den ganzen wollaut unserer alten sprache zu erforschen. solange deutsche zunge dauert, werden diese ehrwür¬ digen gedichte gelesen werden und nimmer untergehn. O des wandels! eine edle hehre dichtung, die vor erst hundert jahren in allen händen war, und mit mäch¬ tigem ruck durch ihren angebornen adel unsere gesamte poesie empor gehoben hat, beginnt, wer wollte es sich verbergen?, ungelesen zu sein und zu versinken. Klop¬ stocks Messias, nachdem er so grosze, in ihm und zu¬ gleich auszer ihm gelegene Wirkung auf seine zeit her¬ vorgebracht hatte, hört fortzuleben auf, und wir müssen ihn heute für ein verfehltes werk erklären. sein dichter wähnte dadurch, dasz er in der evangelisten heilige berichterstattung eine reihe englischer, menschlicher und teuflischer wesen schaltete, ein wahrhaftes epos zu er¬ zeugen, da doch die zwischentretenden gestalten immer nur scheinthätig sind, d. h. alles was geschieht eben¬ so wol auch ohne sie geschehen müste oder geschehen wäre. diese schwebenden und betenden cherubim und seraphim bis auf unser überempfindsames urelternpaar herab halten nicht wider, sie sind lauter fünfte räder am wagen und werden durch ihre erdichtung und unwahr¬ heit uns auf die länge unerträglich, jedes epos aber fordert ungestörten glauben. Klopstocks Christus selbst, so erhaben und gefühlvoll er gehalten sei, ist doch we¬ der geistig fein genug, noch menschlich blühend, dasz beide naturen einander tief durchdrängen. Christus ist gar nicht episch darzustellen, nur lyrisch, denn aller mythischen auffassung entgegen strebt die unverrückbare bestimmtheit unserer religion.

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Zitationshilfe: Candidus, Karl: Der deutsche Christus. Fünfzehn Canzonen. Leipzig, 1844, S. VI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/candidus_christus_1854/12>, abgerufen am 29.03.2024.