Ich könnte es überhoben sein, diese von Lothrin¬
gen her uns dargereichte innige und seelenvolle dich¬
tung mit meinen worten zu begleiten, da unfehlbar
ihr reines, zartgefaltetes gewand den blick von selbst
auf sich ziehen wird. ihre überschrift mahnt mich
an Otfried, der, bald sind es nun schon tausend jahre,
im kloster Weiszenburg, also auch jenseit Rheines,
seinen evangeliono deil den stolzen Franken laut er¬
schallen liesz,
thaz wir Kriste sungun in unsera zungun;
fast um dieselbe zeit, wo eines armen im walde hütenden
hirten stimme, dessen name verschollen ist, durch ein
nachtgesicht plötzlich zur poesie entzündet, den Alt¬
sachsen ihren Heiland sang. so begierig waren diese
Deutschen, ihres frischen glaubens inhalt aus dem rö¬
mischen kleid zu ziehen und in ein heimisches, dem
volke gefüges zu gieszen; sie folgten den evangelischen
berichten auf dem fusze, Otfried mehr aushebend, er¬
bauliche, geistliche gedanken zwischen einstreuend,
der Sachse voller, epischer, in seiner mildeindringenden
sprache klingen heidnische weisen nach. welchen
eindruck diese werke auf ihre zeitgenossen hinter¬
lieszen, wissen wir nicht, beide dichter hätten aber
nicht zu ahnen vermocht, wie zu danke sie späten ge¬
schlechtern geschrieben haben, denen nichts höher an¬
lag, als aus dem schutte langer vergessenheit die sie¬
benschläfer zu wecken, und an ihrer unverwitterten
gestalt, als lautersten denkmälern, die regel und den
ganzen wollaut unserer alten sprache zu erforschen.
solange deutsche zunge dauert, werden diese ehrwür¬
digen gedichte gelesen werden und nimmer untergehn.
O des wandels! eine edle hehre dichtung, die vor
erst hundert jahren in allen händen war, und mit mäch¬
tigem ruck durch ihren angebornen adel unsere gesamte
poesie empor gehoben hat, beginnt, wer wollte es sich
verbergen?, ungelesen zu sein und zu versinken. Klop¬
stocks Messias, nachdem er so grosze, in ihm und zu¬
gleich auszer ihm gelegene Wirkung auf seine zeit her¬
vorgebracht hatte, hört fortzuleben auf, und wir müssen
ihn heute für ein verfehltes werk erklären. sein dichter
wähnte dadurch, dasz er in der evangelisten heilige
berichterstattung eine reihe englischer, menschlicher und
teuflischer wesen schaltete, ein wahrhaftes epos zu er¬
zeugen, da doch die zwischentretenden gestalten immer
nur scheinthätig sind, d. h. alles was geschieht eben¬
so wol auch ohne sie geschehen müste oder geschehen
wäre. diese schwebenden und betenden cherubim und
seraphim bis auf unser überempfindsames urelternpaar
herab halten nicht wider, sie sind lauter fünfte räder am
wagen und werden durch ihre erdichtung und unwahr¬
heit uns auf die länge unerträglich, jedes epos aber
fordert ungestörten glauben. Klopstocks Christus selbst,
so erhaben und gefühlvoll er gehalten sei, ist doch we¬
der geistig fein genug, noch menschlich blühend, dasz
beide naturen einander tief durchdrängen.
Christus ist gar nicht episch darzustellen, nur
lyrisch, denn aller mythischen auffassung entgegen
strebt die unverrückbare bestimmtheit unserer religion.
wer aber sehen will, wie lyrisch er aufzunehmen und
wiederzugeben sei, lese, dünkt mich, unsern neuen
dichter, der vom boden menschlicher und irdischer
gefühle aus dem innersten seiner brust ausgehend auf
in geistige höhe klimmt und sich von ihr herabsenkt,
um von seinem fluge zu ruhen und zum aufschwung
neue stärke zu sammeln. diese mit dichterischer be¬
sonnenheit überall gepaarte schwärmerei scheint sein
eigenstes kennzeichen, und steigender funken art ist es
zu schwärmen, ja alle lyrische begeisterung, mag sie
gott, den sieg oder die liebe zum gegenstand haben,
musz schwärmerisch sein.
Des dichters deutschen Christus dürfte man so
nehmen, als ob heimwehvoll und im bewustsein der
ihm ungeschwächt einwohnenden muttersprache er seine
lieder entsende. vielmehr aber ist offenbar die meinung,
dasz er einen Christus in deutschem sinn aufstelle, wie
ihn deutsche gemütsart und gedankenerhebung ge¬
funden, gehegt und erkannt hat, seit durch die reforma¬
tion herz und glaube gelöst und frei gemacht und
jener kalte, allgemeine Christus der katholischen kirche
aufgehoben wurde. als echten protestanten gibt den
verfasser schon seine äuszere stellung kund, und schöne,
warme worte, die jeder finden wird, verbürgen ihn.
Er wählte sich eine der geschmeidigsten italieni¬
schen formen aus, die vollen gedankenreichthum wal¬
ten läszt und in ungezwungne reime einschlieszt; unter
allen würde ich der vierten canzone und der zwölften
den preis zuerkennen, worin er seines sohnes taufe
feiert, den an die hergegebnen weihetropfen dereinst
zu mahnen er alle gewässer lieblich aufruft.
Mir verargt es keiner, wenn ich ein paar wort¬
bemerkungen beifüge. Candidus bedient sich einiger
ungewöhnlichen ausdrücke, die er vielleicht einführt,
wie neustets für stets von neuem, er setzt im conjunctiv
das praeteritum statt des praesens, wie seite 69 entböte,
75 sprösse, was aber mit einem empfindlichen mangel
unserer sprache zusammenhängt, seite 7 möchte man
lesen hatt es für hat es. schneuse für schneise seite 87
kann gestattet werden. herse seite 64 für egge, im
reim auf ferse schwer zu meiden, ist das einzige ent¬
schlüpfte französische wort (aus irpex, ital. erpice,
harpago). die schreibung ortnung sucht bezüge auf
ort, spitze, ecke, wovon doch schon in der alten
sprache orde, ordnung fern steht, wol aber könnte tief¬
einschlagende etymologie die verhüllte verwandtschaft
zwischen sohn und sühne (goth. sunus und saun) an
den tag bringen.
Berlin 26 dec. 1853.
Jacob Grimm.