Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 2. Hamburg, 1783.Vortheil der erstern, Eitelkeit und Unwissenheit Meine Vorurtheile in der Religion hielten zugleich
Vortheil der erſtern, Eitelkeit und Unwiſſenheit Meine Vorurtheile in der Religion hielten zugleich
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0152" n="146"/> Vortheil der erſtern, Eitelkeit und Unwiſſenheit<lb/> eben ſo eifrig zum Vortheil der leztern.</p><lb/> <p>Meine Vorurtheile in der Religion hielten<lb/> mit den klaſſiſchen gleichen Schrit. Es war eine<lb/> Zeit, da ich es fuͤr unmoͤglich hielt, daß der ehr-<lb/> lichſte Man von der Welt auſſer dem Schooße der<lb/> engliſchen Kirche ſeelig werden koͤnte. Ich bedachte<lb/> nicht, daß Meinungen nicht auf dem Willen beru-<lb/> hen, daß es eben ſo natuͤrlich als zulaͤßig iſt, daß<lb/> ein andrer in Meinungen von mir abgehe, als ich<lb/> von ihm; daß wir, wenn wir beide aufrichtig ſind,<lb/> auch beide ohne Tadel ſind, und folglich gegen-<lb/> ſeitige Nachſicht fuͤr einander haben ſolten. Jezt<lb/> hingegen ſehe ich deutlich ein, daß Irthuͤmer in<lb/> Meinungen, ſo grob ſie auch ſein moͤgen, Mitlei-<lb/> den verdienen, nicht aber Ahndung oder Gelaͤch-<lb/> ter! Des Verſtandes Blindheit iſt eben ſo ſehr zu<lb/> bedauren, als der Augen ihre; und es iſt weder<lb/> Scherz noch Verſchuldung, wenn ſich ein Menſch<lb/> in beiderlei Faͤllen von ſeinem Wege verirt. Die<lb/> kriſtliche Liebe befielt uns, ihm, wenn wir koͤnnen,<lb/> durch Gruͤnde oder Zureden zurecht zu helfen,<lb/> <fw place="bottom" type="catch">zugleich</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [146/0152]
Vortheil der erſtern, Eitelkeit und Unwiſſenheit
eben ſo eifrig zum Vortheil der leztern.
Meine Vorurtheile in der Religion hielten
mit den klaſſiſchen gleichen Schrit. Es war eine
Zeit, da ich es fuͤr unmoͤglich hielt, daß der ehr-
lichſte Man von der Welt auſſer dem Schooße der
engliſchen Kirche ſeelig werden koͤnte. Ich bedachte
nicht, daß Meinungen nicht auf dem Willen beru-
hen, daß es eben ſo natuͤrlich als zulaͤßig iſt, daß
ein andrer in Meinungen von mir abgehe, als ich
von ihm; daß wir, wenn wir beide aufrichtig ſind,
auch beide ohne Tadel ſind, und folglich gegen-
ſeitige Nachſicht fuͤr einander haben ſolten. Jezt
hingegen ſehe ich deutlich ein, daß Irthuͤmer in
Meinungen, ſo grob ſie auch ſein moͤgen, Mitlei-
den verdienen, nicht aber Ahndung oder Gelaͤch-
ter! Des Verſtandes Blindheit iſt eben ſo ſehr zu
bedauren, als der Augen ihre; und es iſt weder
Scherz noch Verſchuldung, wenn ſich ein Menſch
in beiderlei Faͤllen von ſeinem Wege verirt. Die
kriſtliche Liebe befielt uns, ihm, wenn wir koͤnnen,
durch Gruͤnde oder Zureden zurecht zu helfen,
zugleich
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