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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 2. Hamburg, 1783.

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thematiker oder Statsman zu sein, und dafür
gehalten zu werden. Jeder aber macht Anspruch
auf gemeinen Verstand, und wil seinen Plaz in
der Geselschaft mit gewöhnlichem Anstande ein-
nehmen. Daher vergibt er nicht leicht die Nach-
läßigkeiten, Sorglosigkeiten und Geringschäzun-
gen, die diese beiden Ansprüche in Zweifel zu ziehen,
oder sie ihm ganz abzuläugnen scheinen.


Die Menschen überhaupt vertragen es eher,
wenn man sie an ihre Laster und Verbrechen, als
wenn man sie an ihre kleinen Fehler und Schwach-
heiten erinnert. Die ersten rechtfertigen oder
entschuldigen sie, ihrer Meinung nach, in gewisser
Maaße durch starke Leidenschaften, Verführung
und Kunstgriffe andrer. Sich aber seine kleinen
Fehler und Schwachheiten vorhalten zu lassen,
das sezt eine Schwäche des Geistes voraus, die
für die von unsrer Natur unzertrenbare Eigenliebe
und Eitelkeit zu kränkend ist.


Zieh diejenigen in Verdacht, die irgend eine
Tugend auf besonders gezwungne Art annehmen,

sie

thematiker oder Statsman zu ſein, und dafuͤr
gehalten zu werden. Jeder aber macht Anſpruch
auf gemeinen Verſtand, und wil ſeinen Plaz in
der Geſelſchaft mit gewoͤhnlichem Anſtande ein-
nehmen. Daher vergibt er nicht leicht die Nach-
laͤßigkeiten, Sorgloſigkeiten und Geringſchaͤzun-
gen, die dieſe beiden Anſpruͤche in Zweifel zu ziehen,
oder ſie ihm ganz abzulaͤugnen ſcheinen.


Die Menſchen uͤberhaupt vertragen es eher,
wenn man ſie an ihre Laſter und Verbrechen, als
wenn man ſie an ihre kleinen Fehler und Schwach-
heiten erinnert. Die erſten rechtfertigen oder
entſchuldigen ſie, ihrer Meinung nach, in gewiſſer
Maaße durch ſtarke Leidenſchaften, Verfuͤhrung
und Kunſtgriffe andrer. Sich aber ſeine kleinen
Fehler und Schwachheiten vorhalten zu laſſen,
das ſezt eine Schwaͤche des Geiſtes voraus, die
fuͤr die von unſrer Natur unzertrenbare Eigenliebe
und Eitelkeit zu kraͤnkend iſt.


Zieh diejenigen in Verdacht, die irgend eine
Tugend auf beſonders gezwungne Art annehmen,

ſie
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[112/0118] thematiker oder Statsman zu ſein, und dafuͤr gehalten zu werden. Jeder aber macht Anſpruch auf gemeinen Verſtand, und wil ſeinen Plaz in der Geſelſchaft mit gewoͤhnlichem Anſtande ein- nehmen. Daher vergibt er nicht leicht die Nach- laͤßigkeiten, Sorgloſigkeiten und Geringſchaͤzun- gen, die dieſe beiden Anſpruͤche in Zweifel zu ziehen, oder ſie ihm ganz abzulaͤugnen ſcheinen. Die Menſchen uͤberhaupt vertragen es eher, wenn man ſie an ihre Laſter und Verbrechen, als wenn man ſie an ihre kleinen Fehler und Schwach- heiten erinnert. Die erſten rechtfertigen oder entſchuldigen ſie, ihrer Meinung nach, in gewiſſer Maaße durch ſtarke Leidenſchaften, Verfuͤhrung und Kunſtgriffe andrer. Sich aber ſeine kleinen Fehler und Schwachheiten vorhalten zu laſſen, das ſezt eine Schwaͤche des Geiſtes voraus, die fuͤr die von unſrer Natur unzertrenbare Eigenliebe und Eitelkeit zu kraͤnkend iſt. Zieh diejenigen in Verdacht, die irgend eine Tugend auf beſonders gezwungne Art annehmen, ſie

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Zitationshilfe: Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 2. Hamburg, 1783, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron02_1783/118>, abgerufen am 07.05.2024.