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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 2. Hamburg, 1783.

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Der Wunsch, daß alle Menschen sich gefällig
gegen uns beweisen mögen, ist algemein;
eben so algemein solte auch das Bestreben sein, sich
andern gefällig zu machen. Dis liegt mit in dem
großen Grundgesez aller Moralität: thue andern,
was du wünschest, daß man dir thue. Zwar
gibt es wirklich einige höhere, aber keine liebens-
würdigere Pflichten der Sittenlehre; und ich
glaube sie ohne Bedenken an die Spize derjenigen
Tugenden sezen zu dürfen, die Cicero die mil-
dern
-- virtutes leniores nent.

Ein wohlwollendes, fühlendes Herz übt diese
Pflicht mit Vergnügen aus, und erwekt damit
zugleich Vergnügen bei andern. Aber die Großen,
die Reichen, die Mächtigen der Erde spenden oft
ihre Gunstbezeugungen ihren geringern Brüdern,
so wie ihre übrigen Brokken den Hunden; weder
Mensch noch Hund weiß ihnen Dank dafür.

Es ist kein Wunder, wenn Gunstbezeugungen,
Wohlthaten, und selbst Almosen, die man so un-
verbindlich ausspendet, auch wenig oder gar nicht
erkant werden. Denn Dankbarkeit ist für viele

Menschen
A 3

Der Wunſch, daß alle Menſchen ſich gefaͤllig
gegen uns beweiſen moͤgen, iſt algemein;
eben ſo algemein ſolte auch das Beſtreben ſein, ſich
andern gefaͤllig zu machen. Dis liegt mit in dem
großen Grundgeſez aller Moralitaͤt: thue andern,
was du wuͤnſcheſt, daß man dir thue. Zwar
gibt es wirklich einige hoͤhere, aber keine liebens-
wuͤrdigere Pflichten der Sittenlehre; und ich
glaube ſie ohne Bedenken an die Spize derjenigen
Tugenden ſezen zu duͤrfen, die Cicero die mil-
dern
virtutes leniores nent.

Ein wohlwollendes, fuͤhlendes Herz uͤbt dieſe
Pflicht mit Vergnuͤgen aus, und erwekt damit
zugleich Vergnuͤgen bei andern. Aber die Großen,
die Reichen, die Maͤchtigen der Erde ſpenden oft
ihre Gunſtbezeugungen ihren geringern Bruͤdern,
ſo wie ihre uͤbrigen Brokken den Hunden; weder
Menſch noch Hund weiß ihnen Dank dafuͤr.

Es iſt kein Wunder, wenn Gunſtbezeugungen,
Wohlthaten, und ſelbſt Almoſen, die man ſo un-
verbindlich ausſpendet, auch wenig oder gar nicht
erkant werden. Denn Dankbarkeit iſt fuͤr viele

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[[5]/0011] Der Wunſch, daß alle Menſchen ſich gefaͤllig gegen uns beweiſen moͤgen, iſt algemein; eben ſo algemein ſolte auch das Beſtreben ſein, ſich andern gefaͤllig zu machen. Dis liegt mit in dem großen Grundgeſez aller Moralitaͤt: thue andern, was du wuͤnſcheſt, daß man dir thue. Zwar gibt es wirklich einige hoͤhere, aber keine liebens- wuͤrdigere Pflichten der Sittenlehre; und ich glaube ſie ohne Bedenken an die Spize derjenigen Tugenden ſezen zu duͤrfen, die Cicero die mil- dern — virtutes leniores nent. Ein wohlwollendes, fuͤhlendes Herz uͤbt dieſe Pflicht mit Vergnuͤgen aus, und erwekt damit zugleich Vergnuͤgen bei andern. Aber die Großen, die Reichen, die Maͤchtigen der Erde ſpenden oft ihre Gunſtbezeugungen ihren geringern Bruͤdern, ſo wie ihre uͤbrigen Brokken den Hunden; weder Menſch noch Hund weiß ihnen Dank dafuͤr. Es iſt kein Wunder, wenn Gunſtbezeugungen, Wohlthaten, und ſelbſt Almoſen, die man ſo un- verbindlich ausſpendet, auch wenig oder gar nicht erkant werden. Denn Dankbarkeit iſt fuͤr viele Menſchen A 3

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Zitationshilfe: Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 2. Hamburg, 1783, S. [5]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron02_1783/11>, abgerufen am 28.11.2024.