Untersuche bei allem, was du sagen wilst, ob es auch zur Sache dient. Gehst du mit Vor- nehmern um, so vergiß nicht, so ungezwungen und vertraulich du auch mit ihnen sein magst, und sein mußt, den Respekt, den du ihnen schul- dig bist. Im Umgange mit deines Gleichen beobachte eine ungezwungne Vertraulichkeit, und doch zugleich alle Höflichkeit und Wohlanständig- keit. Aber aus zu großer Vertraulichkeit ent- steht, nach dem alten Sprichwort, oft Verach- tung und manchmahl auch Zänkerei. Ich kenne nichts schwerers im gemeinen Umgange, als der Vertraulichkeit die gehörigen Grenzen zu sezen: zu wenig davon ist ungesellige Formalität; zu viel zerstöret wiederum alle Annehmlichkeiten des geselligen Umgangs. Die beste Regel, die ich über den Gebrauch der Vertraulichkeit geben kan ist diese: sei nie vertrauter mit einem andern, als du ertragen und selbst wünschen mögtest, daß er mit dir wäre. Vermeide aber auch jene un- freundliche Zurükhaltung und Kälte, welche ge- meiniglich das Schild der List oder der Dekmantel der Dumheit ist. Es ist eine weise Maxime der
Italiäner:
Unterſuche bei allem, was du ſagen wilſt, ob es auch zur Sache dient. Gehſt du mit Vor- nehmern um, ſo vergiß nicht, ſo ungezwungen und vertraulich du auch mit ihnen ſein magſt, und ſein mußt, den Reſpekt, den du ihnen ſchul- dig biſt. Im Umgange mit deines Gleichen beobachte eine ungezwungne Vertraulichkeit, und doch zugleich alle Hoͤflichkeit und Wohlanſtaͤndig- keit. Aber aus zu großer Vertraulichkeit ent- ſteht, nach dem alten Sprichwort, oft Verach- tung und manchmahl auch Zaͤnkerei. Ich kenne nichts ſchwerers im gemeinen Umgange, als der Vertraulichkeit die gehoͤrigen Grenzen zu ſezen: zu wenig davon iſt ungeſellige Formalitaͤt; zu viel zerſtoͤret wiederum alle Annehmlichkeiten des geſelligen Umgangs. Die beſte Regel, die ich uͤber den Gebrauch der Vertraulichkeit geben kan iſt dieſe: ſei nie vertrauter mit einem andern, als du ertragen und ſelbſt wuͤnſchen moͤgteſt, daß er mit dir waͤre. Vermeide aber auch jene un- freundliche Zuruͤkhaltung und Kaͤlte, welche ge- meiniglich das Schild der Liſt oder der Dekmantel der Dumheit iſt. Es iſt eine weiſe Maxime der
Italiaͤner:
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Unterſuche bei allem, was du ſagen wilſt,
ob es auch zur Sache dient. Gehſt du mit Vor-
nehmern um, ſo vergiß nicht, ſo ungezwungen
und vertraulich du auch mit ihnen ſein magſt,
und ſein mußt, den Reſpekt, den du ihnen ſchul-
dig biſt. Im Umgange mit deines Gleichen
beobachte eine ungezwungne Vertraulichkeit, und
doch zugleich alle Hoͤflichkeit und Wohlanſtaͤndig-
keit. Aber aus zu großer Vertraulichkeit ent-
ſteht, nach dem alten Sprichwort, oft Verach-
tung und manchmahl auch Zaͤnkerei. Ich kenne
nichts ſchwerers im gemeinen Umgange, als der
Vertraulichkeit die gehoͤrigen Grenzen zu ſezen:
zu wenig davon iſt ungeſellige Formalitaͤt; zu
viel zerſtoͤret wiederum alle Annehmlichkeiten des
geſelligen Umgangs. Die beſte Regel, die ich
uͤber den Gebrauch der Vertraulichkeit geben kan
iſt dieſe: ſei nie vertrauter mit einem andern,
als du ertragen und ſelbſt wuͤnſchen moͤgteſt, daß
er mit dir waͤre. Vermeide aber auch jene un-
freundliche Zuruͤkhaltung und Kaͤlte, welche ge-
meiniglich das Schild der Liſt oder der Dekmantel
der Dumheit iſt. Es iſt eine weiſe Maxime der
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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 2. Hamburg, 1783, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron02_1783/101>, abgerufen am 27.07.2024.
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