4. Hüte dich vor dem gewöhnlichen Ir- thume vieler gutartigen jungen Leute, welche mit dem festen Vorsaze, der Tu- gend immer treu zu bleiben, sich die ersten völlig unschuldig scheinenden Grade einer leidenschaftlichen Zärtlichkeit zu erlauben kein Bedenken tragen, weil sie in dem irrigen Wahne stehn, daß es ja nur von ihnen abhänge, es dabei bewenden zu lassen, und nie weiter darin zu gehn, als Tugend und Ehrbarkeit es gestatten. Das heißt, die Natur des menschlichen Herzens, das heißt, den unaufhaltbaren Fortschreitungstrieb einer Leidenschaft schlecht kennen; das heißt, sich von einer jähen Anhöhe herabstürzen, weil man es in seiner Gewalt zu haben glaubte, nicht tiefer zu fallen, als man fallen wolte. Betrogener Jüng- ling! Woher käme dir die Kraft, dich schwe- bend in freier Luft zu erhalten? Glaube mir,
diese
4. Huͤte dich vor dem gewoͤhnlichen Ir- thume vieler gutartigen jungen Leute, welche mit dem feſten Vorſaze, der Tu- gend immer treu zu bleiben, ſich die erſten voͤllig unſchuldig ſcheinenden Grade einer leidenſchaftlichen Zaͤrtlichkeit zu erlauben kein Bedenken tragen, weil ſie in dem irrigen Wahne ſtehn, daß es ja nur von ihnen abhaͤnge, es dabei bewenden zu laſſen, und nie weiter darin zu gehn, als Tugend und Ehrbarkeit es geſtatten. Das heißt, die Natur des menſchlichen Herzens, das heißt, den unaufhaltbaren Fortſchreitungstrieb einer Leidenſchaft ſchlecht kennen; das heißt, ſich von einer jaͤhen Anhoͤhe herabſtuͤrzen, weil man es in ſeiner Gewalt zu haben glaubte, nicht tiefer zu fallen, als man fallen wolte. Betrogener Juͤng- ling! Woher kaͤme dir die Kraft, dich ſchwe- bend in freier Luft zu erhalten? Glaube mir,
dieſe
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4. Huͤte dich vor dem gewoͤhnlichen Ir-
thume vieler gutartigen jungen Leute,
welche mit dem feſten Vorſaze, der Tu-
gend immer treu zu bleiben, ſich die erſten
voͤllig unſchuldig ſcheinenden Grade einer
leidenſchaftlichen Zaͤrtlichkeit zu erlauben
kein Bedenken tragen, weil ſie in dem
irrigen Wahne ſtehn, daß es ja nur von
ihnen abhaͤnge, es dabei bewenden zu
laſſen, und nie weiter darin zu gehn, als
Tugend und Ehrbarkeit es geſtatten. Das
heißt, die Natur des menſchlichen Herzens, das
heißt, den unaufhaltbaren Fortſchreitungstrieb einer
Leidenſchaft ſchlecht kennen; das heißt, ſich von
einer jaͤhen Anhoͤhe herabſtuͤrzen, weil man es
in ſeiner Gewalt zu haben glaubte, nicht tiefer zu
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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/296>, abgerufen am 22.11.2024.
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