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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783.

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Bestimmung hienieden, von der wahren Würde
der menschlichen Natur, von unsern Pflichten
und von dem, was gut und edel genant zu wer-
den verdient, eingesogen haben; und welche end-
lich, durch überspante Hofnungen und Erwar-
tungen ohn' Unterlaß getäuscht, die Welt für ein
Jammerthal halten, in der man nichts bessers
thun könne, als girren, seufzen, weinen und
jammern. Leute dieser Art gehen in ihren Em-
pfindungen, in ihrem Urtheile, in ihren Aus-
drükken und Handlungen nie die Mittelstraße;
alles was auf ihre empfindlichen Nerven einen
Eindruk macht, ist ihnen entweder herlich, him-
lisch, götlich, oder über allen Ausdruk abscheulich
und entsezlich; selbst die Menschen, je nachdem
sie mit ihren hohen überirdischen Gefühlen ent-
weder simpathisiren oder antipatisiren, sind in
ihren Augen entweder Engel oder Ungeheuer.
Dabei sind sie in hohem Grade mitleidig gegen
Bedrengte und Nothleidende, es sei Mensch
oder Thier, König oder Betler, Elephant oder
Ungeziefer; nur Schade, daß ihr Mitgefühl
nicht selten unthätig bleibt, weil das Uebermaaß

ihrer

Beſtimmung hienieden, von der wahren Wuͤrde
der menſchlichen Natur, von unſern Pflichten
und von dem, was gut und edel genant zu wer-
den verdient, eingeſogen haben; und welche end-
lich, durch uͤberſpante Hofnungen und Erwar-
tungen ohn’ Unterlaß getaͤuſcht, die Welt fuͤr ein
Jammerthal halten, in der man nichts beſſers
thun koͤnne, als girren, ſeufzen, weinen und
jammern. Leute dieſer Art gehen in ihren Em-
pfindungen, in ihrem Urtheile, in ihren Aus-
druͤkken und Handlungen nie die Mittelſtraße;
alles was auf ihre empfindlichen Nerven einen
Eindruk macht, iſt ihnen entweder herlich, him-
liſch, goͤtlich, oder uͤber allen Ausdruk abſcheulich
und entſezlich; ſelbſt die Menſchen, je nachdem
ſie mit ihren hohen uͤberirdiſchen Gefuͤhlen ent-
weder ſimpathiſiren oder antipatiſiren, ſind in
ihren Augen entweder Engel oder Ungeheuer.
Dabei ſind ſie in hohem Grade mitleidig gegen
Bedrengte und Nothleidende, es ſei Menſch
oder Thier, Koͤnig oder Betler, Elephant oder
Ungeziefer; nur Schade, daß ihr Mitgefuͤhl
nicht ſelten unthaͤtig bleibt, weil das Uebermaaß

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[187/0217] Beſtimmung hienieden, von der wahren Wuͤrde der menſchlichen Natur, von unſern Pflichten und von dem, was gut und edel genant zu wer- den verdient, eingeſogen haben; und welche end- lich, durch uͤberſpante Hofnungen und Erwar- tungen ohn’ Unterlaß getaͤuſcht, die Welt fuͤr ein Jammerthal halten, in der man nichts beſſers thun koͤnne, als girren, ſeufzen, weinen und jammern. Leute dieſer Art gehen in ihren Em- pfindungen, in ihrem Urtheile, in ihren Aus- druͤkken und Handlungen nie die Mittelſtraße; alles was auf ihre empfindlichen Nerven einen Eindruk macht, iſt ihnen entweder herlich, him- liſch, goͤtlich, oder uͤber allen Ausdruk abſcheulich und entſezlich; ſelbſt die Menſchen, je nachdem ſie mit ihren hohen uͤberirdiſchen Gefuͤhlen ent- weder ſimpathiſiren oder antipatiſiren, ſind in ihren Augen entweder Engel oder Ungeheuer. Dabei ſind ſie in hohem Grade mitleidig gegen Bedrengte und Nothleidende, es ſei Menſch oder Thier, Koͤnig oder Betler, Elephant oder Ungeziefer; nur Schade, daß ihr Mitgefuͤhl nicht ſelten unthaͤtig bleibt, weil das Uebermaaß ihrer

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Zitationshilfe: Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/217>, abgerufen am 24.08.2024.