Die erste und verzeihlichste unter allen ist die bloße Verheimligung der Wahrheit in allen denjenigen Fällen, in welchen keine einzige unsrer Pflichten uns zur Bekantmachung derselben auf- fodert. Wo keine Verbindlichkeit stat findet, da findet auch kein Unrecht stat. Zu schweigen also, wenn keine unserer natürlichen oder geselschaft- lichen Pflichten uns zu reden gebietet, kann nie- mahls unrecht genant werden, kan im Gegentheil oft gut und weise und pflichtmäßig sein. Es gibt der Wahrheiten viele, deren unvorsichtige Bekantmachung für Selen von gewöhnlichem Schlage eben so verderblich sein würde, als die plözliche Einlassung des hellen Tageslichts für diejenigen zu sein pflegt, welche lange Zeit im Finstern lebten, oder denen man so eben erst den Staar gestochen hat. Auch in der phisischen Welt läßt Gott nie auf einmahl Tag werden; erst Nacht, dan schwache Dämmerung, dan Morgenroth, und dan erst Tag! So sol es in dem Reiche der Wahrheit auch sein. Wer hier auf einmahl Tag machen wolte, der würde vielen menschlichen Selen das bischen Sehkraft, das
ihnen
Die erſte und verzeihlichſte unter allen iſt die bloße Verheimligung der Wahrheit in allen denjenigen Faͤllen, in welchen keine einzige unſrer Pflichten uns zur Bekantmachung derſelben auf- fodert. Wo keine Verbindlichkeit ſtat findet, da findet auch kein Unrecht ſtat. Zu ſchweigen alſo, wenn keine unſerer natuͤrlichen oder geſelſchaft- lichen Pflichten uns zu reden gebietet, kann nie- mahls unrecht genant werden, kan im Gegentheil oft gut und weiſe und pflichtmaͤßig ſein. Es gibt der Wahrheiten viele, deren unvorſichtige Bekantmachung fuͤr Selen von gewoͤhnlichem Schlage eben ſo verderblich ſein wuͤrde, als die ploͤzliche Einlaſſung des hellen Tageslichts fuͤr diejenigen zu ſein pflegt, welche lange Zeit im Finſtern lebten, oder denen man ſo eben erſt den Staar geſtochen hat. Auch in der phiſiſchen Welt laͤßt Gott nie auf einmahl Tag werden; erſt Nacht, dan ſchwache Daͤmmerung, dan Morgenroth, und dan erſt Tag! So ſol es in dem Reiche der Wahrheit auch ſein. Wer hier auf einmahl Tag machen wolte, der wuͤrde vielen menſchlichen Selen das bischen Sehkraft, das
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Die erſte und verzeihlichſte unter allen iſt die
bloße Verheimligung der Wahrheit in allen
denjenigen Faͤllen, in welchen keine einzige unſrer
Pflichten uns zur Bekantmachung derſelben auf-
fodert. Wo keine Verbindlichkeit ſtat findet, da
findet auch kein Unrecht ſtat. Zu ſchweigen alſo,
wenn keine unſerer natuͤrlichen oder geſelſchaft-
lichen Pflichten uns zu reden gebietet, kann nie-
mahls unrecht genant werden, kan im Gegentheil
oft gut und weiſe und pflichtmaͤßig ſein. Es
gibt der Wahrheiten viele, deren unvorſichtige
Bekantmachung fuͤr Selen von gewoͤhnlichem
Schlage eben ſo verderblich ſein wuͤrde, als die
ploͤzliche Einlaſſung des hellen Tageslichts fuͤr
diejenigen zu ſein pflegt, welche lange Zeit im
Finſtern lebten, oder denen man ſo eben erſt
den Staar geſtochen hat. Auch in der phiſiſchen
Welt laͤßt Gott nie auf einmahl Tag werden;
erſt Nacht, dan ſchwache Daͤmmerung, dan
Morgenroth, und dan erſt Tag! So ſol es in
dem Reiche der Wahrheit auch ſein. Wer hier
auf einmahl Tag machen wolte, der wuͤrde vielen
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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/148>, abgerufen am 27.11.2024.
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