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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783.

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gen und redlichen Leute, mit allen ihren erkün-
stelten Mienen der reinsten Güte und des wärm-
sten Wohlwollens, mit allen ihren geschliffenen
verbindlichen Worten, und mit allen ihren Ver-
sicherungen von Freundschaft, von Hochachtung
und Bewunderung, nichts mehr und nichts we-
niger, als kalte fühllose Marionetten wären,
welche durch den Draht des Welttons in Bewe-
gung gesezt werden, und bei den lebhaftesten
Aeusserungen von Güte und Gefälligkeit nicht
mehr empfinden, als die hölzerne Puppe bei den
Worten, die der Man hinter der Schirmwand
ihr in den Mund zu legen weiß.

Aber laß uns gerecht sein, mein Sohn, und
nicht jede Unwahrheit, welche wir in dem Ka-
rakter, in den Reden und Handlungen der Men-
schen wahrnehmen, sogleich für Falschheit und
Betrug erklären. Es gibt mehr, als eine Art
derselben, welche diese harte Benennung nicht
verdient, welche sogar der wirklich brave und
rechtschaffene Man sich zu erlauben kein Beden-
ken tragen darf. Ich wil dir diese verschiedenen
Arten von Unwahrheit kürzlich aus einander sezen.


Die
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gen und redlichen Leute, mit allen ihren erkuͤn-
ſtelten Mienen der reinſten Guͤte und des waͤrm-
ſten Wohlwollens, mit allen ihren geſchliffenen
verbindlichen Worten, und mit allen ihren Ver-
ſicherungen von Freundſchaft, von Hochachtung
und Bewunderung, nichts mehr und nichts we-
niger, als kalte fuͤhlloſe Marionetten waͤren,
welche durch den Draht des Welttons in Bewe-
gung geſezt werden, und bei den lebhafteſten
Aeuſſerungen von Guͤte und Gefaͤlligkeit nicht
mehr empfinden, als die hoͤlzerne Puppe bei den
Worten, die der Man hinter der Schirmwand
ihr in den Mund zu legen weiß.

Aber laß uns gerecht ſein, mein Sohn, und
nicht jede Unwahrheit, welche wir in dem Ka-
rakter, in den Reden und Handlungen der Men-
ſchen wahrnehmen, ſogleich fuͤr Falſchheit und
Betrug erklaͤren. Es gibt mehr, als eine Art
derſelben, welche dieſe harte Benennung nicht
verdient, welche ſogar der wirklich brave und
rechtſchaffene Man ſich zu erlauben kein Beden-
ken tragen darf. Ich wil dir dieſe verſchiedenen
Arten von Unwahrheit kuͤrzlich aus einander ſezen.


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[117/0147] gen und redlichen Leute, mit allen ihren erkuͤn- ſtelten Mienen der reinſten Guͤte und des waͤrm- ſten Wohlwollens, mit allen ihren geſchliffenen verbindlichen Worten, und mit allen ihren Ver- ſicherungen von Freundſchaft, von Hochachtung und Bewunderung, nichts mehr und nichts we- niger, als kalte fuͤhlloſe Marionetten waͤren, welche durch den Draht des Welttons in Bewe- gung geſezt werden, und bei den lebhafteſten Aeuſſerungen von Guͤte und Gefaͤlligkeit nicht mehr empfinden, als die hoͤlzerne Puppe bei den Worten, die der Man hinter der Schirmwand ihr in den Mund zu legen weiß. Aber laß uns gerecht ſein, mein Sohn, und nicht jede Unwahrheit, welche wir in dem Ka- rakter, in den Reden und Handlungen der Men- ſchen wahrnehmen, ſogleich fuͤr Falſchheit und Betrug erklaͤren. Es gibt mehr, als eine Art derſelben, welche dieſe harte Benennung nicht verdient, welche ſogar der wirklich brave und rechtſchaffene Man ſich zu erlauben kein Beden- ken tragen darf. Ich wil dir dieſe verſchiedenen Arten von Unwahrheit kuͤrzlich aus einander ſezen. Die H 3

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Zitationshilfe: Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/147>, abgerufen am 02.09.2024.