Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916].
Und Tolstoi läßt einen landschaftlichen Eindruck zu Mu- 1 Hier macht sich Nietzsche eines Widerspruchs schuldig; träumt er
vorher von einer vielleicht "böseren" Musik, so denkt er sich jetzt eine Musik, die "von Gut und Böse nichts mehr wüßte"; - doch war mir bei der Anführung um den letzteren Sinn zu tun.
Und Tolstoi läßt einen landschaftlichen Eindruck zu Mu- 1 Hier macht sich Nietzsche eines Widerspruchs schuldig; träumt er
vorher von einer vielleicht „böseren“ Musik, so denkt er sich jetzt eine Musik, die „von Gut und Böse nichts mehr wüßte“; – doch war mir bei der Anführung um den letzteren Sinn zu tun. <TEI> <text> <body> <div> <quote> <p><pb facs="#f0047" n="47"/> leicht böseren und geheimnisvolleren Musik in seinen Ohren<lb/> haben, einer überdeutschen Musik, welche vor dem Anblick<lb/> des blauen, wollüstigen Meeres und der mittelländischen<lb/> Himmelshelle nicht verklingt, vergilbt, verblaßt, wie es alle<lb/> deutsche Musik tut, einer übereuropäischen Musik, die noch<lb/> vor den braunen Sonnenuntergängen der Wüste recht be -<lb/> hält, deren Seele mit der Palme verwandt ist und unter<lb/> großen, schönen, einsamen Raubtieren heimisch zu sein und<lb/> zu schweifen versteht. – –</p><lb/> <p>Ich könnte mir eine Musik denken, deren seltenster Zauber<lb/> darin bestände, daß sie von Gut und Böse <note place="foot" n="1"><p>Hier macht sich <persName>Nietzsche</persName> eines Widerspruchs schuldig; träumt er<lb/> vorher von einer vielleicht „böseren“ Musik, so denkt er sich jetzt eine<lb/> Musik, die <quote>„von Gut und Böse nichts mehr wüßte“</quote>; – doch war mir<lb/> bei der Anführung um den letzteren Sinn zu tun.</p><lb/></note> nichts mehr<lb/> wüßte, nur daß vielleicht irgendein Schifferheimweh, irgend -<lb/> welche goldne Schatten und zärtliche Schwächen hier und<lb/> da über sie hinwegliefen: eine Kunst, welche von großer Ferne<lb/> her die Farben einer untergehenden, fast unverständlich<lb/> gewordenen moralischen Welt zu sich flüchten sähe, und die<lb/> gastfreundlich und tief genug zum Empfang solcher späten<lb/> Flüchtlinge wäre …“ </p><lb/> </quote> <p>Und <persName>Tolstoi</persName> läßt einen landschaftlichen Eindruck zu Mu-<lb/> sikempfindung werden, wenn er in <title type="main">„Luzern“</title> schreibt:<lb/><quote>„Weder auf dem See, noch an den Bergen, noch am<lb/> Himmel eine einzige gerade Linie, eine einzige ungemischte<lb/> Farbe, ein einziger Ruhepunkt – überall Bewegung, Un -<lb/> regelmäßigkeit, Willkür, Mannigfaltigkeit, unaufhörliches<lb/> Ineinanderfließen von Schatten und Linien, und in allem<lb/> die Ruhe, Weichheit, Harmonie und Notwendigkeit des<lb/> Schönen.“</quote><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [47/0047]
leicht böseren und geheimnisvolleren Musik in seinen Ohren
haben, einer überdeutschen Musik, welche vor dem Anblick
des blauen, wollüstigen Meeres und der mittelländischen
Himmelshelle nicht verklingt, vergilbt, verblaßt, wie es alle
deutsche Musik tut, einer übereuropäischen Musik, die noch
vor den braunen Sonnenuntergängen der Wüste recht be -
hält, deren Seele mit der Palme verwandt ist und unter
großen, schönen, einsamen Raubtieren heimisch zu sein und
zu schweifen versteht. – –
Ich könnte mir eine Musik denken, deren seltenster Zauber
darin bestände, daß sie von Gut und Böse 1 nichts mehr
wüßte, nur daß vielleicht irgendein Schifferheimweh, irgend -
welche goldne Schatten und zärtliche Schwächen hier und
da über sie hinwegliefen: eine Kunst, welche von großer Ferne
her die Farben einer untergehenden, fast unverständlich
gewordenen moralischen Welt zu sich flüchten sähe, und die
gastfreundlich und tief genug zum Empfang solcher späten
Flüchtlinge wäre …“
Und Tolstoi läßt einen landschaftlichen Eindruck zu Mu-
sikempfindung werden, wenn er in „Luzern“ schreibt:
„Weder auf dem See, noch an den Bergen, noch am
Himmel eine einzige gerade Linie, eine einzige ungemischte
Farbe, ein einziger Ruhepunkt – überall Bewegung, Un -
regelmäßigkeit, Willkür, Mannigfaltigkeit, unaufhörliches
Ineinanderfließen von Schatten und Linien, und in allem
die Ruhe, Weichheit, Harmonie und Notwendigkeit des
Schönen.“
1 Hier macht sich Nietzsche eines Widerspruchs schuldig; träumt er
vorher von einer vielleicht „böseren“ Musik, so denkt er sich jetzt eine
Musik, die „von Gut und Böse nichts mehr wüßte“; – doch war mir
bei der Anführung um den letzteren Sinn zu tun.
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Zitationshilfe: | Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/47>, abgerufen am 16.07.2024. |