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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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Erste ist dieß System mit Citaten aus dem Aberglauben6. Abschnitt.
des Alterthums ganz angefüllt; sodann erscheint seine Ein-
mischung in das Leben und in die Leidenschaft der Italiener
bisweilen höchst bedeutend und folgenreich. Man sollte
denken, daß nur die verdorbensten Großen sich damit ein-
gelassen hätten, allein das heftige Wünschen und Begehren
führt den Zauberern hie und da auch kräftige und schöpfe-
rische Menschen aller Stände zu und schon das Bewußtsein,
daß die Sache möglich sei, raubt auch den Fernstehenden
immer etwas von ihrem Glauben an eine sittliche Welt-
ordnung. Mit etwas Geld und Gefahr schien man der
allgemeinen Vernunft und Sittlichkeit ungestraft trotzen zu
können und die Zwischenstufen zu ersparen, welche sonst
zwischen dem Menschen und seinen erlaubten oder unerlaubten
Zielen liegen.

Betrachten wir zunächst ein älteres, im Absterben be-Die Telesmen,
griffenes Stück Zauberei. Aus dem dunkelsten Mittelalter,
ja aus dem Alterthum bewahrte manche Stadt in Italien
eine Erinnerung an die Verknüpfung ihres Schicksals mit
gewissen Bauten, Statuen u. s. w. Die Alten hatten einst
zu erzählen gewußt von den Weihepriestern oder Telesten,
welche bei der feierlichen Gründung einzelner Städte zu-
gegen gewesen waren, und das Wohlergehen derselben durch
bestimmte Denkmäler, auch wohl durch geheimes Vergraben
bestimmter Gegenstände (Telesmata) magisch gesichert hatten.
Wenn irgend etwas aus der römischen Zeit mündlich und
populär überliefert weiter lebte, so waren es Traditionen
dieser Art; nur wird natürlich der Weihepriester im Lauf
der Jahrhunderte zum Zauberer schlechthin, da man die
religiöse Seite seines Thuns im Alterthum nicht mehr ver-
steht. In einigen neapolitanischen Virgilswundern 1) lebtin Neapel;

vielleicht gar nie Mittel. Ein Scheusal wie Gilles de Retz (um
1440), der den Dämonen über 100 Kinder opferte, hat in Italien
kaum eine ferne Analogie.
1) Vgl. die wichtige Abhandlung von Roth "über den Zauberer Vir-

Erſte iſt dieß Syſtem mit Citaten aus dem Aberglauben6. Abſchnitt.
des Alterthums ganz angefüllt; ſodann erſcheint ſeine Ein-
miſchung in das Leben und in die Leidenſchaft der Italiener
bisweilen höchſt bedeutend und folgenreich. Man ſollte
denken, daß nur die verdorbenſten Großen ſich damit ein-
gelaſſen hätten, allein das heftige Wünſchen und Begehren
führt den Zauberern hie und da auch kräftige und ſchöpfe-
riſche Menſchen aller Stände zu und ſchon das Bewußtſein,
daß die Sache möglich ſei, raubt auch den Fernſtehenden
immer etwas von ihrem Glauben an eine ſittliche Welt-
ordnung. Mit etwas Geld und Gefahr ſchien man der
allgemeinen Vernunft und Sittlichkeit ungeſtraft trotzen zu
können und die Zwiſchenſtufen zu erſparen, welche ſonſt
zwiſchen dem Menſchen und ſeinen erlaubten oder unerlaubten
Zielen liegen.

Betrachten wir zunächſt ein älteres, im Abſterben be-Die Telesmen,
griffenes Stück Zauberei. Aus dem dunkelſten Mittelalter,
ja aus dem Alterthum bewahrte manche Stadt in Italien
eine Erinnerung an die Verknüpfung ihres Schickſals mit
gewiſſen Bauten, Statuen u. ſ. w. Die Alten hatten einſt
zu erzählen gewußt von den Weiheprieſtern oder Teleſten,
welche bei der feierlichen Gründung einzelner Städte zu-
gegen geweſen waren, und das Wohlergehen derſelben durch
beſtimmte Denkmäler, auch wohl durch geheimes Vergraben
beſtimmter Gegenſtände (Telesmata) magiſch geſichert hatten.
Wenn irgend etwas aus der römiſchen Zeit mündlich und
populär überliefert weiter lebte, ſo waren es Traditionen
dieſer Art; nur wird natürlich der Weiheprieſter im Lauf
der Jahrhunderte zum Zauberer ſchlechthin, da man die
religiöſe Seite ſeines Thuns im Alterthum nicht mehr ver-
ſteht. In einigen neapolitaniſchen Virgilswundern 1) lebtin Neapel;

vielleicht gar nie Mittel. Ein Scheuſal wie Gilles de Retz (um
1440), der den Dämonen über 100 Kinder opferte, hat in Italien
kaum eine ferne Analogie.
1) Vgl. die wichtige Abhandlung von Roth „über den Zauberer Vir-
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[541/0551] Erſte iſt dieß Syſtem mit Citaten aus dem Aberglauben des Alterthums ganz angefüllt; ſodann erſcheint ſeine Ein- miſchung in das Leben und in die Leidenſchaft der Italiener bisweilen höchſt bedeutend und folgenreich. Man ſollte denken, daß nur die verdorbenſten Großen ſich damit ein- gelaſſen hätten, allein das heftige Wünſchen und Begehren führt den Zauberern hie und da auch kräftige und ſchöpfe- riſche Menſchen aller Stände zu und ſchon das Bewußtſein, daß die Sache möglich ſei, raubt auch den Fernſtehenden immer etwas von ihrem Glauben an eine ſittliche Welt- ordnung. Mit etwas Geld und Gefahr ſchien man der allgemeinen Vernunft und Sittlichkeit ungeſtraft trotzen zu können und die Zwiſchenſtufen zu erſparen, welche ſonſt zwiſchen dem Menſchen und ſeinen erlaubten oder unerlaubten Zielen liegen. 6. Abſchnitt. Betrachten wir zunächſt ein älteres, im Abſterben be- griffenes Stück Zauberei. Aus dem dunkelſten Mittelalter, ja aus dem Alterthum bewahrte manche Stadt in Italien eine Erinnerung an die Verknüpfung ihres Schickſals mit gewiſſen Bauten, Statuen u. ſ. w. Die Alten hatten einſt zu erzählen gewußt von den Weiheprieſtern oder Teleſten, welche bei der feierlichen Gründung einzelner Städte zu- gegen geweſen waren, und das Wohlergehen derſelben durch beſtimmte Denkmäler, auch wohl durch geheimes Vergraben beſtimmter Gegenſtände (Telesmata) magiſch geſichert hatten. Wenn irgend etwas aus der römiſchen Zeit mündlich und populär überliefert weiter lebte, ſo waren es Traditionen dieſer Art; nur wird natürlich der Weiheprieſter im Lauf der Jahrhunderte zum Zauberer ſchlechthin, da man die religiöſe Seite ſeines Thuns im Alterthum nicht mehr ver- ſteht. In einigen neapolitaniſchen Virgilswundern 1) lebt 3) Die Telesmen, in Neapel; 1) Vgl. die wichtige Abhandlung von Roth „über den Zauberer Vir- 3) vielleicht gar nie Mittel. Ein Scheuſal wie Gilles de Retz (um 1440), der den Dämonen über 100 Kinder opferte, hat in Italien kaum eine ferne Analogie.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 541. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/551>, abgerufen am 29.03.2024.