Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

Bild:
<< vorherige Seite

Vorposten des entfesselten Individualismus kennen lernten,6. Abschnitt.
entwickelten in der Regel einen solchen Character, daß uns
selbst ihre Religiosität, die bisweilen mit sehr bestimmten
Ansprüchen auftritt, gleichgültig sein darf. In den Ruf
von Atheisten gelangten sie etwa, wenn sie indifferent wa-
ren und dabei ruchlose Reden gegen die Kirche führten;
einen irgendwie speculativ begründeten Ueberzeugungsatheis-
mus hat keiner aufgestellt, 1) noch aufzustellen wagen dür-
fen. Wenn sie sich auf einen leitenden Gedanken besannen,
so wird es am ehesten eine Art von oberflächlichem Ratio-
nalismus gewesen sein, ein flüchtiger Niederschlag aus den
vielen widersprechenden Ideen der Alten, womit sie sich be-
schäftigen mußten, und aus der Verachtung der Kirche und
ihrer Lehre. Dieser Art war wohl jenes Raisonnement,
welches den Galeottus Martius 2) beinahe auf den Scheiter-
haufen brachte, wenn ihn nicht sein früherer Schüler Papst
Sixtus IV. eilends aus den Händen der Inquisition heraus-
gerissen hätte. Galeotto hatte nämlich geschrieben: wer sich
recht aufführe und nach dem innern, angeborenen Gesetz
handle, aus welchem Volk er auch sei, der komme in den
Himmel.

Betrachten wir beispielsweise das religiöse VerhaltenReligion des
Codrus Urceus.

eines der geringern aus der großen Schaar, des Codrus
Urceus, 3) der erst Hauslehrer des letzten Ordelaffo, Fürsten
von Forli, und dann lange Jahre Professor in Bologna
gewesen ist. Ueber Hierarchie und Mönche bringt er die
obligaten Lästerungen im vollsten Maß; sein Ton im All-
gemeinen ist höchst frevelhaft, dazu erlaubt er sich eine be-
ständige Einmischung seiner Person nebst Stadtgeschichten
und Possen. Aber er kann auch erbaulich von dem wahren

1) Ueber Pomponazzo vgl. die Specialwerke, u. a. Ritter, Gesch. der
Philosophie, Bd. IX.
2) Paul. Jovii Elogia lit.
3) Codri Urcei opera, vorn sein Leben von Bart. Bianchini, dann in
seinen philologischen Vorlesungen p. 65. 151. 278 etc.

Vorpoſten des entfeſſelten Individualismus kennen lernten,6. Abſchnitt.
entwickelten in der Regel einen ſolchen Character, daß uns
ſelbſt ihre Religioſität, die bisweilen mit ſehr beſtimmten
Anſprüchen auftritt, gleichgültig ſein darf. In den Ruf
von Atheiſten gelangten ſie etwa, wenn ſie indifferent wa-
ren und dabei ruchloſe Reden gegen die Kirche führten;
einen irgendwie ſpeculativ begründeten Ueberzeugungsatheis-
mus hat keiner aufgeſtellt, 1) noch aufzuſtellen wagen dür-
fen. Wenn ſie ſich auf einen leitenden Gedanken beſannen,
ſo wird es am eheſten eine Art von oberflächlichem Ratio-
nalismus geweſen ſein, ein flüchtiger Niederſchlag aus den
vielen widerſprechenden Ideen der Alten, womit ſie ſich be-
ſchäftigen mußten, und aus der Verachtung der Kirche und
ihrer Lehre. Dieſer Art war wohl jenes Raiſonnement,
welches den Galeottus Martius 2) beinahe auf den Scheiter-
haufen brachte, wenn ihn nicht ſein früherer Schüler Papſt
Sixtus IV. eilends aus den Händen der Inquiſition heraus-
geriſſen hätte. Galeotto hatte nämlich geſchrieben: wer ſich
recht aufführe und nach dem innern, angeborenen Geſetz
handle, aus welchem Volk er auch ſei, der komme in den
Himmel.

Betrachten wir beiſpielsweiſe das religiöſe VerhaltenReligion des
Codrus Urceus.

eines der geringern aus der großen Schaar, des Codrus
Urceus, 3) der erſt Hauslehrer des letzten Ordelaffo, Fürſten
von Forli, und dann lange Jahre Profeſſor in Bologna
geweſen iſt. Ueber Hierarchie und Mönche bringt er die
obligaten Läſterungen im vollſten Maß; ſein Ton im All-
gemeinen iſt höchſt frevelhaft, dazu erlaubt er ſich eine be-
ſtändige Einmiſchung ſeiner Perſon nebſt Stadtgeſchichten
und Poſſen. Aber er kann auch erbaulich von dem wahren

1) Ueber Pomponazzo vgl. die Specialwerke, u. a. Ritter, Geſch. der
Philoſophie, Bd. IX.
2) Paul. Jovii Elogia lit.
3) Codri Urcei opera, vorn ſein Leben von Bart. Bianchini, dann in
ſeinen philologiſchen Vorleſungen p. 65. 151. 278 etc.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0515" n="505"/>
Vorpo&#x017F;ten des entfe&#x017F;&#x017F;elten Individualismus kennen lernten,<note place="right"><hi rendition="#b"><hi rendition="#u">6. Ab&#x017F;chnitt.</hi></hi></note><lb/>
entwickelten in der Regel einen &#x017F;olchen Character, daß uns<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t ihre Religio&#x017F;ität, die bisweilen mit &#x017F;ehr be&#x017F;timmten<lb/>
An&#x017F;prüchen auftritt, gleichgültig &#x017F;ein darf. In den Ruf<lb/>
von Athei&#x017F;ten gelangten &#x017F;ie etwa, wenn &#x017F;ie indifferent wa-<lb/>
ren und dabei ruchlo&#x017F;e Reden gegen die Kirche führten;<lb/>
einen irgendwie &#x017F;peculativ begründeten Ueberzeugungsatheis-<lb/>
mus hat keiner aufge&#x017F;tellt, <note place="foot" n="1)">Ueber Pomponazzo vgl. die Specialwerke, u. a. Ritter, Ge&#x017F;ch. der<lb/>
Philo&#x017F;ophie, Bd. <hi rendition="#aq">IX.</hi></note> noch aufzu&#x017F;tellen wagen dür-<lb/>
fen. Wenn &#x017F;ie &#x017F;ich auf einen leitenden Gedanken be&#x017F;annen,<lb/>
&#x017F;o wird es am ehe&#x017F;ten eine Art von oberflächlichem Ratio-<lb/>
nalismus gewe&#x017F;en &#x017F;ein, ein flüchtiger Nieder&#x017F;chlag aus den<lb/>
vielen wider&#x017F;prechenden Ideen der Alten, womit &#x017F;ie &#x017F;ich be-<lb/>
&#x017F;chäftigen mußten, und aus der Verachtung der Kirche und<lb/>
ihrer Lehre. Die&#x017F;er Art war wohl jenes Rai&#x017F;onnement,<lb/>
welches den Galeottus Martius <note place="foot" n="2)"><hi rendition="#aq">Paul. Jovii Elogia lit.</hi></note> beinahe auf den Scheiter-<lb/>
haufen brachte, wenn ihn nicht &#x017F;ein früherer Schüler Pap&#x017F;t<lb/>
Sixtus <hi rendition="#aq">IV.</hi> eilends aus den Händen der Inqui&#x017F;ition heraus-<lb/>
geri&#x017F;&#x017F;en hätte. Galeotto hatte nämlich ge&#x017F;chrieben: wer &#x017F;ich<lb/>
recht aufführe und nach dem innern, angeborenen Ge&#x017F;etz<lb/>
handle, aus welchem Volk er auch &#x017F;ei, der komme in den<lb/>
Himmel.</p><lb/>
        <p>Betrachten wir bei&#x017F;pielswei&#x017F;e das religiö&#x017F;e Verhalten<note place="right">Religion des<lb/>
Codrus Urceus.</note><lb/>
eines der geringern aus der großen Schaar, des Codrus<lb/>
Urceus, <note place="foot" n="3)"><hi rendition="#aq">Codri Urcei opera,</hi> vorn &#x017F;ein Leben von Bart. Bianchini, dann in<lb/>
&#x017F;einen philologi&#x017F;chen Vorle&#x017F;ungen <hi rendition="#aq">p. 65. 151. 278 etc.</hi></note> der er&#x017F;t Hauslehrer des letzten Ordelaffo, Für&#x017F;ten<lb/>
von Forli, und dann lange Jahre Profe&#x017F;&#x017F;or in Bologna<lb/>
gewe&#x017F;en i&#x017F;t. Ueber Hierarchie und Mönche bringt er die<lb/>
obligaten Lä&#x017F;terungen im voll&#x017F;ten Maß; &#x017F;ein Ton im All-<lb/>
gemeinen i&#x017F;t höch&#x017F;t frevelhaft, dazu erlaubt er &#x017F;ich eine be-<lb/>
&#x017F;tändige Einmi&#x017F;chung &#x017F;einer Per&#x017F;on neb&#x017F;t Stadtge&#x017F;chichten<lb/>
und Po&#x017F;&#x017F;en. Aber er kann auch erbaulich von dem wahren<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[505/0515] Vorpoſten des entfeſſelten Individualismus kennen lernten, entwickelten in der Regel einen ſolchen Character, daß uns ſelbſt ihre Religioſität, die bisweilen mit ſehr beſtimmten Anſprüchen auftritt, gleichgültig ſein darf. In den Ruf von Atheiſten gelangten ſie etwa, wenn ſie indifferent wa- ren und dabei ruchloſe Reden gegen die Kirche führten; einen irgendwie ſpeculativ begründeten Ueberzeugungsatheis- mus hat keiner aufgeſtellt, 1) noch aufzuſtellen wagen dür- fen. Wenn ſie ſich auf einen leitenden Gedanken beſannen, ſo wird es am eheſten eine Art von oberflächlichem Ratio- nalismus geweſen ſein, ein flüchtiger Niederſchlag aus den vielen widerſprechenden Ideen der Alten, womit ſie ſich be- ſchäftigen mußten, und aus der Verachtung der Kirche und ihrer Lehre. Dieſer Art war wohl jenes Raiſonnement, welches den Galeottus Martius 2) beinahe auf den Scheiter- haufen brachte, wenn ihn nicht ſein früherer Schüler Papſt Sixtus IV. eilends aus den Händen der Inquiſition heraus- geriſſen hätte. Galeotto hatte nämlich geſchrieben: wer ſich recht aufführe und nach dem innern, angeborenen Geſetz handle, aus welchem Volk er auch ſei, der komme in den Himmel. 6. Abſchnitt. Betrachten wir beiſpielsweiſe das religiöſe Verhalten eines der geringern aus der großen Schaar, des Codrus Urceus, 3) der erſt Hauslehrer des letzten Ordelaffo, Fürſten von Forli, und dann lange Jahre Profeſſor in Bologna geweſen iſt. Ueber Hierarchie und Mönche bringt er die obligaten Läſterungen im vollſten Maß; ſein Ton im All- gemeinen iſt höchſt frevelhaft, dazu erlaubt er ſich eine be- ſtändige Einmiſchung ſeiner Perſon nebſt Stadtgeſchichten und Poſſen. Aber er kann auch erbaulich von dem wahren Religion des Codrus Urceus. 1) Ueber Pomponazzo vgl. die Specialwerke, u. a. Ritter, Geſch. der Philoſophie, Bd. IX. 2) Paul. Jovii Elogia lit. 3) Codri Urcei opera, vorn ſein Leben von Bart. Bianchini, dann in ſeinen philologiſchen Vorleſungen p. 65. 151. 278 etc.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/515
Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 505. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/515>, abgerufen am 04.05.2024.