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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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Es ist nicht undenkbar, daß die Jubileen zum Theil ein-6. Abschnitt.
gerichtet wurden, um diesen unheimlichen Wandertrieb re-
ligiös aufgeregter Massen möglichst zu reguliren und un-
schädlich zu machen; auch zogen die inzwischen neu berühmt
gewordenen Wallfahrtsorte Italiens, wie z. B. Loreto, einen
Theil jener Aufregung an sich 1).

Aber in schrecklichen Augenblicken erwacht hie und da
ganz spät die Gluth der mittelalterlichen Buße, und das
geängstigte Volk, zumal wenn Prodigien hinzukommen, will
mit Geißelungen und lautem Geschrei um Barmherzigkeit
den Himmel erweichen. So war es bei der Pest von 1457
zu Bologna 2), so bei den innern Wirren von 1496 in
Siena 3), um aus zahllosen Beispielen nur zwei zu wählen.
Wahrhaft erschütternd aber ist was 1529 zu Mailand ge-Die Buße von
Mailand.

schah, als die drei furchtbaren Geschwister Krieg, Hunger
und Pest sammt der spanischen Aussaugerei die höchste Ver-
zweiflung über das Land gebracht hatten 4). Zufällig war
es ein spanischer Mönch, Fra Tommaso Nieto, auf den man
jetzt hörte; bei den barfüßigen Processionen von Alt und
Jung ließ er das Sacrament auf eine neue Weise mittragen,
nämlich befestigt auf einer geschmückten Bahre, welche auf
den Schultern von vier Priestern im Linnengewande ruhte --

1) Entferntere Wallfahrten werden schon sehr selten. Diejenigen der
Fürsten vom Hause Este nach Jerusalem, S. Yago und Vienne sind
aufgezählt im Diario Ferrarese bei Murat. XXIV, Col. 182.
187. 190. 279.
Die des Rinaldo Albizzi in's heil. Land bei
Macchiavelli, stor. fior., L. V. Auch hier ist bisweilen die Ruhm-
lust das Bestimmende; von Lionardo Frescobaldi, der mit einem Ge-
fährten (gegen 1400) nach dem heil. Grabe pilgern wollte, sagt der
Chronist Giov. Cavalcanti (II, p. 478): Stimarono di eternarsi
nella mente degli uomini futuri.
2) Bursellis, annal. Bon. bei Murat. XXIII, Col. 890.
3) Allegretto, bei Murat. XXIII, Col. 855, s.
4) Burigozzo, Arch. stor. III, p. 486.

Es iſt nicht undenkbar, daß die Jubileen zum Theil ein-6. Abſchnitt.
gerichtet wurden, um dieſen unheimlichen Wandertrieb re-
ligiös aufgeregter Maſſen möglichſt zu reguliren und un-
ſchädlich zu machen; auch zogen die inzwiſchen neu berühmt
gewordenen Wallfahrtsorte Italiens, wie z. B. Loreto, einen
Theil jener Aufregung an ſich 1).

Aber in ſchrecklichen Augenblicken erwacht hie und da
ganz ſpät die Gluth der mittelalterlichen Buße, und das
geängſtigte Volk, zumal wenn Prodigien hinzukommen, will
mit Geißelungen und lautem Geſchrei um Barmherzigkeit
den Himmel erweichen. So war es bei der Peſt von 1457
zu Bologna 2), ſo bei den innern Wirren von 1496 in
Siena 3), um aus zahlloſen Beiſpielen nur zwei zu wählen.
Wahrhaft erſchütternd aber iſt was 1529 zu Mailand ge-Die Buße von
Mailand.

ſchah, als die drei furchtbaren Geſchwiſter Krieg, Hunger
und Peſt ſammt der ſpaniſchen Ausſaugerei die höchſte Ver-
zweiflung über das Land gebracht hatten 4). Zufällig war
es ein ſpaniſcher Mönch, Fra Tommaſo Nieto, auf den man
jetzt hörte; bei den barfüßigen Proceſſionen von Alt und
Jung ließ er das Sacrament auf eine neue Weiſe mittragen,
nämlich befeſtigt auf einer geſchmückten Bahre, welche auf
den Schultern von vier Prieſtern im Linnengewande ruhte —

1) Entferntere Wallfahrten werden ſchon ſehr ſelten. Diejenigen der
Fürſten vom Hauſe Eſte nach Jeruſalem, S. Yago und Vienne ſind
aufgezählt im Diario Ferrarese bei Murat. XXIV, Col. 182.
187. 190. 279.
Die des Rinaldo Albizzi in's heil. Land bei
Macchiavelli, stor. fior., L. V. Auch hier iſt bisweilen die Ruhm-
luſt das Beſtimmende; von Lionardo Frescobaldi, der mit einem Ge-
fährten (gegen 1400) nach dem heil. Grabe pilgern wollte, ſagt der
Chroniſt Giov. Cavalcanti (II, p. 478): Stimarono di eternarsi
nella mente degli uomini futuri.
2) Bursellis, annal. Bon. bei Murat. XXIII, Col. 890.
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4) Burigozzo, Arch. stor. III, p. 486.
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[491/0501] Es iſt nicht undenkbar, daß die Jubileen zum Theil ein- gerichtet wurden, um dieſen unheimlichen Wandertrieb re- ligiös aufgeregter Maſſen möglichſt zu reguliren und un- ſchädlich zu machen; auch zogen die inzwiſchen neu berühmt gewordenen Wallfahrtsorte Italiens, wie z. B. Loreto, einen Theil jener Aufregung an ſich 1). 6. Abſchnitt. Aber in ſchrecklichen Augenblicken erwacht hie und da ganz ſpät die Gluth der mittelalterlichen Buße, und das geängſtigte Volk, zumal wenn Prodigien hinzukommen, will mit Geißelungen und lautem Geſchrei um Barmherzigkeit den Himmel erweichen. So war es bei der Peſt von 1457 zu Bologna 2), ſo bei den innern Wirren von 1496 in Siena 3), um aus zahlloſen Beiſpielen nur zwei zu wählen. Wahrhaft erſchütternd aber iſt was 1529 zu Mailand ge- ſchah, als die drei furchtbaren Geſchwiſter Krieg, Hunger und Peſt ſammt der ſpaniſchen Ausſaugerei die höchſte Ver- zweiflung über das Land gebracht hatten 4). Zufällig war es ein ſpaniſcher Mönch, Fra Tommaſo Nieto, auf den man jetzt hörte; bei den barfüßigen Proceſſionen von Alt und Jung ließ er das Sacrament auf eine neue Weiſe mittragen, nämlich befeſtigt auf einer geſchmückten Bahre, welche auf den Schultern von vier Prieſtern im Linnengewande ruhte — Die Buße von Mailand. 1) Entferntere Wallfahrten werden ſchon ſehr ſelten. Diejenigen der Fürſten vom Hauſe Eſte nach Jeruſalem, S. Yago und Vienne ſind aufgezählt im Diario Ferrarese bei Murat. XXIV, Col. 182. 187. 190. 279. Die des Rinaldo Albizzi in's heil. Land bei Macchiavelli, stor. fior., L. V. Auch hier iſt bisweilen die Ruhm- luſt das Beſtimmende; von Lionardo Frescobaldi, der mit einem Ge- fährten (gegen 1400) nach dem heil. Grabe pilgern wollte, ſagt der Chroniſt Giov. Cavalcanti (II, p. 478): Stimarono di eternarsi nella mente degli uomini futuri. 2) Bursellis, annal. Bon. bei Murat. XXIII, Col. 890. 3) Allegretto, bei Murat. XXIII, Col. 855, s. 4) Burigozzo, Arch. stor. III, p. 486.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 491. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/501>, abgerufen am 04.05.2024.