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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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6. Abschnitt.Religion überhaupt, je nachdem man die Folgerungen mit
Recht oder Unrecht auszudehnen beliebte. Man darf hiebei
wohl annehmen, daß Italien eine deutlichere Erinnerung
von dem Aufkommen der beiden großen Bettelorden bewahrt
hatte als andere Länder, daß es noch ein Bewußtsein davon
besaß, dieselben seien ursprünglich die Träger jener Reaction 1)
gegen das was man die Ketzerei des XIII. Jahrhunderts
nennt, d. h. gegen eine frühe starke Regung des modernen
italienischen Geistes. Und das geistliche Polizeiamt, welches
den Dominicanern insbesondere dauernd anvertraut blieb,
hat gewiß nie ein anderes Gefühl rege gemacht als heim-
lichen Haß und Hohn.

Hohn der No-
vellisten.
Wenn man den Decamerone und die Novellen des
Franco Sacchetti liest, sollte man glauben, die frevelhafte
Rede gegen Mönche und Nonnen wäre erschöpft. Aber
gegen die Zeit der Reformation hin steigert sich dieser Ton
noch um ein Merkliches. Gerne lassen wir Aretino aus
dem Spiel, da er in den Ragionamenti das Klosterleben
nur zum Vorwand braucht, um seinem eigenen Naturell
den Zügel schießen zu lassen. Aber einen Zeugen statt aller
müssen wir hier nennen: Massuccio in den zehn ersten von
seinen fünfzig Novellen. Sie sind in der tiefsten Entrüstung
und mit dem Zweck dieselbe zu verbreiten geschrieben und
den vornehmsten Personen, selbst dem König Ferrante und
dem Prinzen Alfonso von Neapel dedicirt. Die Geschichten
selbst sind zum Theil älter und einzelne schon aus Boccaccio
bekannt; anderes aber hat eine furchtbare neapolitanische
Actualität. Die Bethörung und Aussaugung der Volks-
massen durch falsche Wunder, verbunden mit einem schänd-
lichen Wandel, bringen hier einen denkenden Zuschauer zu
einer wahren Verzweiflung. Von herumziehenden Minoriten
Conventualen heißt es: "Sie betrügen, rauben und huren,
und wo sie nicht mehr weiter wissen, stellen sie sich als

1) Giov. Villani III, 29 sagt dieß sehr deutlich ein Jahrh. später.

6. Abſchnitt.Religion überhaupt, je nachdem man die Folgerungen mit
Recht oder Unrecht auszudehnen beliebte. Man darf hiebei
wohl annehmen, daß Italien eine deutlichere Erinnerung
von dem Aufkommen der beiden großen Bettelorden bewahrt
hatte als andere Länder, daß es noch ein Bewußtſein davon
beſaß, dieſelben ſeien urſprünglich die Träger jener Reaction 1)
gegen das was man die Ketzerei des XIII. Jahrhunderts
nennt, d. h. gegen eine frühe ſtarke Regung des modernen
italieniſchen Geiſtes. Und das geiſtliche Polizeiamt, welches
den Dominicanern insbeſondere dauernd anvertraut blieb,
hat gewiß nie ein anderes Gefühl rege gemacht als heim-
lichen Haß und Hohn.

Hohn der No-
velliſten.
Wenn man den Decamerone und die Novellen des
Franco Sacchetti liest, ſollte man glauben, die frevelhafte
Rede gegen Mönche und Nonnen wäre erſchöpft. Aber
gegen die Zeit der Reformation hin ſteigert ſich dieſer Ton
noch um ein Merkliches. Gerne laſſen wir Aretino aus
dem Spiel, da er in den Ragionamenti das Kloſterleben
nur zum Vorwand braucht, um ſeinem eigenen Naturell
den Zügel ſchießen zu laſſen. Aber einen Zeugen ſtatt aller
müſſen wir hier nennen: Maſſuccio in den zehn erſten von
ſeinen fünfzig Novellen. Sie ſind in der tiefſten Entrüſtung
und mit dem Zweck dieſelbe zu verbreiten geſchrieben und
den vornehmſten Perſonen, ſelbſt dem König Ferrante und
dem Prinzen Alfonſo von Neapel dedicirt. Die Geſchichten
ſelbſt ſind zum Theil älter und einzelne ſchon aus Boccaccio
bekannt; anderes aber hat eine furchtbare neapolitaniſche
Actualität. Die Bethörung und Ausſaugung der Volks-
maſſen durch falſche Wunder, verbunden mit einem ſchänd-
lichen Wandel, bringen hier einen denkenden Zuſchauer zu
einer wahren Verzweiflung. Von herumziehenden Minoriten
Conventualen heißt es: „Sie betrügen, rauben und huren,
und wo ſie nicht mehr weiter wiſſen, ſtellen ſie ſich als

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[460/0470] Religion überhaupt, je nachdem man die Folgerungen mit Recht oder Unrecht auszudehnen beliebte. Man darf hiebei wohl annehmen, daß Italien eine deutlichere Erinnerung von dem Aufkommen der beiden großen Bettelorden bewahrt hatte als andere Länder, daß es noch ein Bewußtſein davon beſaß, dieſelben ſeien urſprünglich die Träger jener Reaction 1) gegen das was man die Ketzerei des XIII. Jahrhunderts nennt, d. h. gegen eine frühe ſtarke Regung des modernen italieniſchen Geiſtes. Und das geiſtliche Polizeiamt, welches den Dominicanern insbeſondere dauernd anvertraut blieb, hat gewiß nie ein anderes Gefühl rege gemacht als heim- lichen Haß und Hohn. 6. Abſchnitt. Wenn man den Decamerone und die Novellen des Franco Sacchetti liest, ſollte man glauben, die frevelhafte Rede gegen Mönche und Nonnen wäre erſchöpft. Aber gegen die Zeit der Reformation hin ſteigert ſich dieſer Ton noch um ein Merkliches. Gerne laſſen wir Aretino aus dem Spiel, da er in den Ragionamenti das Kloſterleben nur zum Vorwand braucht, um ſeinem eigenen Naturell den Zügel ſchießen zu laſſen. Aber einen Zeugen ſtatt aller müſſen wir hier nennen: Maſſuccio in den zehn erſten von ſeinen fünfzig Novellen. Sie ſind in der tiefſten Entrüſtung und mit dem Zweck dieſelbe zu verbreiten geſchrieben und den vornehmſten Perſonen, ſelbſt dem König Ferrante und dem Prinzen Alfonſo von Neapel dedicirt. Die Geſchichten ſelbſt ſind zum Theil älter und einzelne ſchon aus Boccaccio bekannt; anderes aber hat eine furchtbare neapolitaniſche Actualität. Die Bethörung und Ausſaugung der Volks- maſſen durch falſche Wunder, verbunden mit einem ſchänd- lichen Wandel, bringen hier einen denkenden Zuſchauer zu einer wahren Verzweiflung. Von herumziehenden Minoriten Conventualen heißt es: „Sie betrügen, rauben und huren, und wo ſie nicht mehr weiter wiſſen, ſtellen ſie ſich als Hohn der No- velliſten. 1) Giov. Villani III, 29 ſagt dieß ſehr deutlich ein Jahrh. ſpäter.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 460. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/470>, abgerufen am 27.11.2024.