Nothzüchtigung des Bischofs von Fano 1) durch Pierluigi6. Abschnitt. Farnese von Parma, Sohn Paul's III., zu erklären.
Wenn wir uns nun erlauben dürften die HauptzügeSittlichkeit und Individualis- mus. des damaligen italienischen Characters, wie er uns aus dem Leben der höhern Stände überliefert ist, zusammen- zufassen, so würde sich etwa Folgendes ergeben. Der Grundmangel dieses Characters erscheint zugleich als die Bedingung seiner Größe: der entwickelte Individualismus. Dieser reißt sich zuerst innerlich los von dem gegebenen, meist tyrannischen und illegitimen Staatswesen und was er nun sinnt und thut, das wird ihm zum Verrath angerechnet, mit Recht oder mit Unrecht. Beim Anblick des siegreichen Egoismus unternimmt er selbst, in eigener Sache, die Ver- theidigung des Rechtes und verfällt durch die Rache, die er übt, den dunkeln Gewalten, während er seinen innern Frieden herzustellen glaubt. Seine Liebe wendet sich am ehesten einem andern entwickelten Individualismus zu, nämlich der Gattinn seines Nächsten. Gegenüber von allem Objectiven, von Schranken und Gesetzen jeder Art hat er das Gefühl eigener Souveränetät und entschließt sich in jedem einzelnen Fall selbständig, je nachdem in seinem In- nern Ehrgefühl und Vortheil, kluge Erwägung und Leiden- schaft, Entsagung und Rachsucht sich vertragen.
Wenn nun die Selbstsucht im weitern wie im engsten Sinne Wurzel und Hauptstamm alles Bösen ist, so wäre schon deßhalb der entwickelte Italiener damals dem Bösen näher gewesen als andere Völker.
Aber diese individuelle Entwicklung kam nicht durch seine Schuld über ihn, sondern durch einen weltgeschicht- lichen Rathschluß; sie kam auch nicht über ihn allein, son- dern wesentlich vermittelst der italienischen Cultur auch über
1)Varchi, storie fiorentine, am Ende (Wenn das Werk unver- stümmelt abgedruckt ist, wie z. B. in der Mailänder Ausgabe.)
Nothzüchtigung des Biſchofs von Fano 1) durch Pierluigi6. Abſchnitt. Farneſe von Parma, Sohn Paul's III., zu erklären.
Wenn wir uns nun erlauben dürften die HauptzügeSittlichkeit und Individualis- mus. des damaligen italieniſchen Characters, wie er uns aus dem Leben der höhern Stände überliefert iſt, zuſammen- zufaſſen, ſo würde ſich etwa Folgendes ergeben. Der Grundmangel dieſes Characters erſcheint zugleich als die Bedingung ſeiner Größe: der entwickelte Individualismus. Dieſer reißt ſich zuerſt innerlich los von dem gegebenen, meiſt tyranniſchen und illegitimen Staatsweſen und was er nun ſinnt und thut, das wird ihm zum Verrath angerechnet, mit Recht oder mit Unrecht. Beim Anblick des ſiegreichen Egoismus unternimmt er ſelbſt, in eigener Sache, die Ver- theidigung des Rechtes und verfällt durch die Rache, die er übt, den dunkeln Gewalten, während er ſeinen innern Frieden herzuſtellen glaubt. Seine Liebe wendet ſich am eheſten einem andern entwickelten Individualismus zu, nämlich der Gattinn ſeines Nächſten. Gegenüber von allem Objectiven, von Schranken und Geſetzen jeder Art hat er das Gefühl eigener Souveränetät und entſchließt ſich in jedem einzelnen Fall ſelbſtändig, je nachdem in ſeinem In- nern Ehrgefühl und Vortheil, kluge Erwägung und Leiden- ſchaft, Entſagung und Rachſucht ſich vertragen.
Wenn nun die Selbſtſucht im weitern wie im engſten Sinne Wurzel und Hauptſtamm alles Böſen iſt, ſo wäre ſchon deßhalb der entwickelte Italiener damals dem Böſen näher geweſen als andere Völker.
Aber dieſe individuelle Entwicklung kam nicht durch ſeine Schuld über ihn, ſondern durch einen weltgeſchicht- lichen Rathſchluß; ſie kam auch nicht über ihn allein, ſon- dern weſentlich vermittelſt der italieniſchen Cultur auch über
1)Varchi, storie fiorentine, am Ende (Wenn das Werk unver- ſtümmelt abgedruckt iſt, wie z. B. in der Mailänder Ausgabe.)
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Nothzüchtigung des Biſchofs von Fano 1) durch Pierluigi
Farneſe von Parma, Sohn Paul's III., zu erklären.
6. Abſchnitt.
Wenn wir uns nun erlauben dürften die Hauptzüge
des damaligen italieniſchen Characters, wie er uns aus
dem Leben der höhern Stände überliefert iſt, zuſammen-
zufaſſen, ſo würde ſich etwa Folgendes ergeben. Der
Grundmangel dieſes Characters erſcheint zugleich als die
Bedingung ſeiner Größe: der entwickelte Individualismus.
Dieſer reißt ſich zuerſt innerlich los von dem gegebenen,
meiſt tyranniſchen und illegitimen Staatsweſen und was er
nun ſinnt und thut, das wird ihm zum Verrath angerechnet,
mit Recht oder mit Unrecht. Beim Anblick des ſiegreichen
Egoismus unternimmt er ſelbſt, in eigener Sache, die Ver-
theidigung des Rechtes und verfällt durch die Rache, die
er übt, den dunkeln Gewalten, während er ſeinen innern
Frieden herzuſtellen glaubt. Seine Liebe wendet ſich am
eheſten einem andern entwickelten Individualismus zu,
nämlich der Gattinn ſeines Nächſten. Gegenüber von allem
Objectiven, von Schranken und Geſetzen jeder Art hat er
das Gefühl eigener Souveränetät und entſchließt ſich in
jedem einzelnen Fall ſelbſtändig, je nachdem in ſeinem In-
nern Ehrgefühl und Vortheil, kluge Erwägung und Leiden-
ſchaft, Entſagung und Rachſucht ſich vertragen.
Sittlichkeit und
Individualis-
mus.
Wenn nun die Selbſtſucht im weitern wie im engſten
Sinne Wurzel und Hauptſtamm alles Böſen iſt, ſo wäre
ſchon deßhalb der entwickelte Italiener damals dem Böſen
näher geweſen als andere Völker.
Aber dieſe individuelle Entwicklung kam nicht durch
ſeine Schuld über ihn, ſondern durch einen weltgeſchicht-
lichen Rathſchluß; ſie kam auch nicht über ihn allein, ſon-
dern weſentlich vermittelſt der italieniſchen Cultur auch über
1) Varchi, storie fiorentine, am Ende (Wenn das Werk unver-
ſtümmelt abgedruckt iſt, wie z. B. in der Mailänder Ausgabe.)
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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 455. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/465>, abgerufen am 27.11.2024.
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