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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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6. Abschnitt.Man kennt eine Heftigkeit der Schwäche, die sich nicht be-
herrschen kann; hier dagegen handelt es sich um eine Aus-
artung der Kraft. Bisweilen knüpft sich daran eine Ent-
wicklung ins Colossale; das Verbrechen gewinnt eine eigene,
persönliche Consistenz.

Allgemeiner
Frevelsinn.
Schranken giebt es nur noch wenige. Der Gegenwir-
kung des illegitimen, auf Gewalt gegründeten Staates mit
seiner Polizei fühlt sich Jedermann, auch das gemeine Volk,
innerlich entwachsen, und an die Gerechtigkeit der Justiz
glaubt man allgemein nicht mehr. Bei einer Mordthat ist, bevor
man irgend die nähern Umstände kennt, die Sympathie un-
willkürlich auf Seiten des Mörders 1). Ein männliches, stolzes
Auftreten vor und während der Hinrichtung erregt vollends
solche Bewunderung, daß die Erzähler darob leicht vergessen
zu melden, warum der Betreffende verurtheilt war 2). Wenn
aber irgendwo zu der innerlichen Verachtung der Justiz
und zu den vielen aufgesparten Vendetten noch die Straf-
losigkeit hinzutritt, etwa in Zeiten politischer Unruhen, dann
scheint sich bisweilen der Staat und das bürgerliche Leben
auflösen zu wollen. Solche Momente hatte Neapel beim
Uebergang von der aragonesischen auf die französische und
auf die spanische Herrschaft, solche hatte auch Mailand bei
der mehrmaligen Vertreibung und Wiederkehr der Sforza.
Da kommen jene Menschen zum Vorschein, welche den Staat
und die Gesellschaft insgeheim niemals anerkannt haben
und nun ihre räuberische und mörderische Selbstsucht ganz
souverän walten lassen. Betrachten wir beispielshalber ein
Bild dieser Art aus einem kleinern Kreise.

1) Piaccia al Signore Iddio che non si ritrovi, sagen bei Giraldi III,
Nov. 10 die Frauen im Hause, wenn man ihnen erzählt, die That
könne den Mörder den Kopf kosten.
2) Dieß begegnet z. B. Gioviano Pontano (de fortitudine, L. II.);
seine heldenmüthigen Ascolaner, welche noch die letzte Nacht hindurch
tanzen und singen, die abruzzesische Mutter, welche den Sohn auf
dem Gang zum Richtplatz aufheitert u. s. w. gehören vermuthlich
in Räuberfamilien, was er jedoch übergeht.

6. Abſchnitt.Man kennt eine Heftigkeit der Schwäche, die ſich nicht be-
herrſchen kann; hier dagegen handelt es ſich um eine Aus-
artung der Kraft. Bisweilen knüpft ſich daran eine Ent-
wicklung ins Coloſſale; das Verbrechen gewinnt eine eigene,
perſönliche Conſiſtenz.

Allgemeiner
Frevelſinn.
Schranken giebt es nur noch wenige. Der Gegenwir-
kung des illegitimen, auf Gewalt gegründeten Staates mit
ſeiner Polizei fühlt ſich Jedermann, auch das gemeine Volk,
innerlich entwachſen, und an die Gerechtigkeit der Juſtiz
glaubt man allgemein nicht mehr. Bei einer Mordthat iſt, bevor
man irgend die nähern Umſtände kennt, die Sympathie un-
willkürlich auf Seiten des Mörders 1). Ein männliches, ſtolzes
Auftreten vor und während der Hinrichtung erregt vollends
ſolche Bewunderung, daß die Erzähler darob leicht vergeſſen
zu melden, warum der Betreffende verurtheilt war 2). Wenn
aber irgendwo zu der innerlichen Verachtung der Juſtiz
und zu den vielen aufgeſparten Vendetten noch die Straf-
loſigkeit hinzutritt, etwa in Zeiten politiſcher Unruhen, dann
ſcheint ſich bisweilen der Staat und das bürgerliche Leben
auflöſen zu wollen. Solche Momente hatte Neapel beim
Uebergang von der aragoneſiſchen auf die franzöſiſche und
auf die ſpaniſche Herrſchaft, ſolche hatte auch Mailand bei
der mehrmaligen Vertreibung und Wiederkehr der Sforza.
Da kommen jene Menſchen zum Vorſchein, welche den Staat
und die Geſellſchaft insgeheim niemals anerkannt haben
und nun ihre räuberiſche und mörderiſche Selbſtſucht ganz
ſouverän walten laſſen. Betrachten wir beiſpielshalber ein
Bild dieſer Art aus einem kleinern Kreiſe.

1) Piaccia al Signore Iddio che non si ritrovi, ſagen bei Giraldi III,
Nov. 10 die Frauen im Hauſe, wenn man ihnen erzählt, die That
könne den Mörder den Kopf koſten.
2) Dieß begegnet z. B. Gioviano Pontano (de fortitudine, L. II.);
ſeine heldenmüthigen Ascolaner, welche noch die letzte Nacht hindurch
tanzen und ſingen, die abruzzeſiſche Mutter, welche den Sohn auf
dem Gang zum Richtplatz aufheitert u. ſ. w. gehören vermuthlich
in Räuberfamilien, was er jedoch übergeht.
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[446/0456] Man kennt eine Heftigkeit der Schwäche, die ſich nicht be- herrſchen kann; hier dagegen handelt es ſich um eine Aus- artung der Kraft. Bisweilen knüpft ſich daran eine Ent- wicklung ins Coloſſale; das Verbrechen gewinnt eine eigene, perſönliche Conſiſtenz. 6. Abſchnitt. Schranken giebt es nur noch wenige. Der Gegenwir- kung des illegitimen, auf Gewalt gegründeten Staates mit ſeiner Polizei fühlt ſich Jedermann, auch das gemeine Volk, innerlich entwachſen, und an die Gerechtigkeit der Juſtiz glaubt man allgemein nicht mehr. Bei einer Mordthat iſt, bevor man irgend die nähern Umſtände kennt, die Sympathie un- willkürlich auf Seiten des Mörders 1). Ein männliches, ſtolzes Auftreten vor und während der Hinrichtung erregt vollends ſolche Bewunderung, daß die Erzähler darob leicht vergeſſen zu melden, warum der Betreffende verurtheilt war 2). Wenn aber irgendwo zu der innerlichen Verachtung der Juſtiz und zu den vielen aufgeſparten Vendetten noch die Straf- loſigkeit hinzutritt, etwa in Zeiten politiſcher Unruhen, dann ſcheint ſich bisweilen der Staat und das bürgerliche Leben auflöſen zu wollen. Solche Momente hatte Neapel beim Uebergang von der aragoneſiſchen auf die franzöſiſche und auf die ſpaniſche Herrſchaft, ſolche hatte auch Mailand bei der mehrmaligen Vertreibung und Wiederkehr der Sforza. Da kommen jene Menſchen zum Vorſchein, welche den Staat und die Geſellſchaft insgeheim niemals anerkannt haben und nun ihre räuberiſche und mörderiſche Selbſtſucht ganz ſouverän walten laſſen. Betrachten wir beiſpielshalber ein Bild dieſer Art aus einem kleinern Kreiſe. Allgemeiner Frevelſinn. 1) Piaccia al Signore Iddio che non si ritrovi, ſagen bei Giraldi III, Nov. 10 die Frauen im Hauſe, wenn man ihnen erzählt, die That könne den Mörder den Kopf koſten. 2) Dieß begegnet z. B. Gioviano Pontano (de fortitudine, L. II.); ſeine heldenmüthigen Ascolaner, welche noch die letzte Nacht hindurch tanzen und ſingen, die abruzzeſiſche Mutter, welche den Sohn auf dem Gang zum Richtplatz aufheitert u. ſ. w. gehören vermuthlich in Räuberfamilien, was er jedoch übergeht.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/456>, abgerufen am 26.04.2024.