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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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6. Abschnitt.Wer will es nun unternehmen, die ungeheure Summe
Vergleichung
mit andern
Völkern.
von Immoralität, welche in den geschilderten Verhältnissen
liegt, mit dem zu vergleichen, was in andern Ländern ge-
schah. War die Ehe z. B. in Frankreich während des XV.
Jahrhunderts wirklich heiliger als in Italien? Die Fabliaux
und Farcen erregen starke Zweifel, und man sollte glau-
ben, daß die Untreue eben so häufig, nur der tragische
Ausgang seltener gewesen, weil das Individuum mit seinen
Ansprüchen weniger entwickelt war. Eher möchte zu Gunsten
der germanischen Völker ein entscheidendes Zeugniß vor-
handen sein, nämlich jene größere gesellschaftliche Freiheit
der Frauen und Mädchen, welche den Italienern in Eng-
land und in den Niederlanden so angenehm auffiel. (S. 395,
Anm.) Und doch wird man auch hierauf kein zu großes
Gewicht legen dürfen. Die Untreue war gewiß ebenfalls
sehr häufig und der individuell entwickeltere Mensch treibt es
auch hier bis zur Tragödie. Man sehe nur wie die da-
maligen nordischen Fürsten bisweilen auf den ersten Ver-
dacht hin mit ihren Gemahlinnen umgehen.

Die
vergeistigte
Liebe.
Innerhalb des Unerlaubten aber bewegte sich bei den
damaligen Italienern nicht nur das gemeine Gelüste, nicht
nur die dumpfe Begier des gewöhnlichen Menschen, sondern
auch die Leidenschaft der Edelsten und Besten; nicht bloß
weil die unverheiratheten Mädchen sich außerhalb der Ge-
sellschaft befanden, sondern auch weil gerade der vollkom-
mene Mann am stärksten angezogen wurde von dem bereits
durch die Ehe ausgebildeten weiblichen Wesen. Diese Männer
sind es, welche die höchsten Töne der lyrischen Poesie an-
geschlagen und auch in Abhandlungen und Dialogen von
der verzehrenden Leidenschaft ein verklärtes Abbild zu geben
versucht haben: l'amor divino. Wenn sie über die Grau-
samkeit des geflügelten Gottes klagen, so ist damit nicht
bloß die Hartherzigkeit der Geliebten oder ihre Zurückhal-
tung gemeint, sondern auch das Bewußtsein der Unrecht-
mäßigkeit der Verbindung. Ueber dieses Unglück suchen sie

6. Abſchnitt.Wer will es nun unternehmen, die ungeheure Summe
Vergleichung
mit andern
Völkern.
von Immoralität, welche in den geſchilderten Verhältniſſen
liegt, mit dem zu vergleichen, was in andern Ländern ge-
ſchah. War die Ehe z. B. in Frankreich während des XV.
Jahrhunderts wirklich heiliger als in Italien? Die Fabliaux
und Farcen erregen ſtarke Zweifel, und man ſollte glau-
ben, daß die Untreue eben ſo häufig, nur der tragiſche
Ausgang ſeltener geweſen, weil das Individuum mit ſeinen
Anſprüchen weniger entwickelt war. Eher möchte zu Gunſten
der germaniſchen Völker ein entſcheidendes Zeugniß vor-
handen ſein, nämlich jene größere geſellſchaftliche Freiheit
der Frauen und Mädchen, welche den Italienern in Eng-
land und in den Niederlanden ſo angenehm auffiel. (S. 395,
Anm.) Und doch wird man auch hierauf kein zu großes
Gewicht legen dürfen. Die Untreue war gewiß ebenfalls
ſehr häufig und der individuell entwickeltere Menſch treibt es
auch hier bis zur Tragödie. Man ſehe nur wie die da-
maligen nordiſchen Fürſten bisweilen auf den erſten Ver-
dacht hin mit ihren Gemahlinnen umgehen.

Die
vergeiſtigte
Liebe.
Innerhalb des Unerlaubten aber bewegte ſich bei den
damaligen Italienern nicht nur das gemeine Gelüſte, nicht
nur die dumpfe Begier des gewöhnlichen Menſchen, ſondern
auch die Leidenſchaft der Edelſten und Beſten; nicht bloß
weil die unverheiratheten Mädchen ſich außerhalb der Ge-
ſellſchaft befanden, ſondern auch weil gerade der vollkom-
mene Mann am ſtärkſten angezogen wurde von dem bereits
durch die Ehe ausgebildeten weiblichen Weſen. Dieſe Männer
ſind es, welche die höchſten Töne der lyriſchen Poeſie an-
geſchlagen und auch in Abhandlungen und Dialogen von
der verzehrenden Leidenſchaft ein verklärtes Abbild zu geben
verſucht haben: l'amor divino. Wenn ſie über die Grau-
ſamkeit des geflügelten Gottes klagen, ſo iſt damit nicht
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[444/0454] Wer will es nun unternehmen, die ungeheure Summe von Immoralität, welche in den geſchilderten Verhältniſſen liegt, mit dem zu vergleichen, was in andern Ländern ge- ſchah. War die Ehe z. B. in Frankreich während des XV. Jahrhunderts wirklich heiliger als in Italien? Die Fabliaux und Farcen erregen ſtarke Zweifel, und man ſollte glau- ben, daß die Untreue eben ſo häufig, nur der tragiſche Ausgang ſeltener geweſen, weil das Individuum mit ſeinen Anſprüchen weniger entwickelt war. Eher möchte zu Gunſten der germaniſchen Völker ein entſcheidendes Zeugniß vor- handen ſein, nämlich jene größere geſellſchaftliche Freiheit der Frauen und Mädchen, welche den Italienern in Eng- land und in den Niederlanden ſo angenehm auffiel. (S. 395, Anm.) Und doch wird man auch hierauf kein zu großes Gewicht legen dürfen. Die Untreue war gewiß ebenfalls ſehr häufig und der individuell entwickeltere Menſch treibt es auch hier bis zur Tragödie. Man ſehe nur wie die da- maligen nordiſchen Fürſten bisweilen auf den erſten Ver- dacht hin mit ihren Gemahlinnen umgehen. 6. Abſchnitt. Vergleichung mit andern Völkern. Innerhalb des Unerlaubten aber bewegte ſich bei den damaligen Italienern nicht nur das gemeine Gelüſte, nicht nur die dumpfe Begier des gewöhnlichen Menſchen, ſondern auch die Leidenſchaft der Edelſten und Beſten; nicht bloß weil die unverheiratheten Mädchen ſich außerhalb der Ge- ſellſchaft befanden, ſondern auch weil gerade der vollkom- mene Mann am ſtärkſten angezogen wurde von dem bereits durch die Ehe ausgebildeten weiblichen Weſen. Dieſe Männer ſind es, welche die höchſten Töne der lyriſchen Poeſie an- geſchlagen und auch in Abhandlungen und Dialogen von der verzehrenden Leidenſchaft ein verklärtes Abbild zu geben verſucht haben: l'amor divino. Wenn ſie über die Grau- ſamkeit des geflügelten Gottes klagen, ſo iſt damit nicht bloß die Hartherzigkeit der Geliebten oder ihre Zurückhal- tung gemeint, ſondern auch das Bewußtſein der Unrecht- mäßigkeit der Verbindung. Ueber dieſes Unglück ſuchen ſie Die vergeiſtigte Liebe.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 444. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/454>, abgerufen am 27.04.2024.