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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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6. Abschnitt.nayz 1), bien instruictz, conversans en compaignies
honnestes, ont par nature ung instinct et aguillon
qui tousjours les poulse a faictz vertueux, et retire
de vice: lequel ilz nommoyent honneur.

Es ist derselbe Glaube an die Güte der menschlichen Na-
tur, welcher auch die zweite Hälfte des XVIII. Jahrhunderts
beseelte und der französischen Revolution die Wege bereiten
half. Auch bei den Italienern appellirt Jeder individuell
an diesen seinen eigenen edeln Instinct, und wenn im Großen
und Ganzen -- hauptsächlich unter dem Eindruck des natio-
nalen Unglückes -- pessimistischer geurtheilt oder empfunden
wird, gleichwohl wird man immer jenes Ehrgefühl hoch
halten müssen. Wenn einmal die schrankenlose Entwicklung
des Individuums eine welthistorische Fügung, wenn sie
stärker war als der Wille des Einzelnen, so ist auch diese
gegenwirkende Kraft, wo sie im damaligen Italien vorkömmt,
eine große Erscheinung. Wie oft und gegen welch heftige
Angriffe der Selbstsucht sie den Sieg davon trug, wissen
wir eben nicht, und deßhalb reicht unser menschliches Urtheil
überhaupt nicht aus, um den absoluten moralischen Werth
der Nation richtig zu schätzen.

Die Phantasie
und ihre Herr-
schaft.
Was nun der Sittlichkeit des höher entwickelten Ita-
lieners der Renaissance als wichtigste allgemeine Voraus-
setzung gegenübersteht, ist die Phantasie. Sie vor allem
verleiht seinen Tugenden und Fehlern ihre besondere Farbe;
unter ihrer Herrschaft gewinnt seine entfesselte Selbstsucht
erst ihre volle Furchtbarkeit.

1) D. h. wohlgeboren im höhern Sinn, denn Rabelais, der Wirthssohn
von Chinon, hat keine Ursache, dem Adel als solchem hier ein Vor-
recht zu gestatten. -- Die Predigt des Evangeliums, von welcher
in der Inschrift des Klosters die Rede ist, würde zu dem sonstigen
Leben der Thelemiten wenig passen; sie ist auch eher negativ, im
Sinne des Trotzes gegen die römische Kirche zu deuten.

6. Abſchnitt.nayz 1), bien instruictz, conversans en compaignies
honnestes, ont par nature ung instinct et aguillon
qui tousjours les poulse à faictz vertueux, et retire
de vice: lequel ilz nommoyent honneur.

Es iſt derſelbe Glaube an die Güte der menſchlichen Na-
tur, welcher auch die zweite Hälfte des XVIII. Jahrhunderts
beſeelte und der franzöſiſchen Revolution die Wege bereiten
half. Auch bei den Italienern appellirt Jeder individuell
an dieſen ſeinen eigenen edeln Inſtinct, und wenn im Großen
und Ganzen — hauptſächlich unter dem Eindruck des natio-
nalen Unglückes — peſſimiſtiſcher geurtheilt oder empfunden
wird, gleichwohl wird man immer jenes Ehrgefühl hoch
halten müſſen. Wenn einmal die ſchrankenloſe Entwicklung
des Individuums eine welthiſtoriſche Fügung, wenn ſie
ſtärker war als der Wille des Einzelnen, ſo iſt auch dieſe
gegenwirkende Kraft, wo ſie im damaligen Italien vorkömmt,
eine große Erſcheinung. Wie oft und gegen welch heftige
Angriffe der Selbſtſucht ſie den Sieg davon trug, wiſſen
wir eben nicht, und deßhalb reicht unſer menſchliches Urtheil
überhaupt nicht aus, um den abſoluten moraliſchen Werth
der Nation richtig zu ſchätzen.

Die Phantaſie
und ihre Herr-
ſchaft.
Was nun der Sittlichkeit des höher entwickelten Ita-
lieners der Renaiſſance als wichtigſte allgemeine Voraus-
ſetzung gegenüberſteht, iſt die Phantaſie. Sie vor allem
verleiht ſeinen Tugenden und Fehlern ihre beſondere Farbe;
unter ihrer Herrſchaft gewinnt ſeine entfeſſelte Selbſtſucht
erſt ihre volle Furchtbarkeit.

1) D. h. wohlgeboren im höhern Sinn, denn Rabelais, der Wirthsſohn
von Chinon, hat keine Urſache, dem Adel als ſolchem hier ein Vor-
recht zu geſtatten. — Die Predigt des Evangeliums, von welcher
in der Inſchrift des Kloſters die Rede iſt, würde zu dem ſonſtigen
Leben der Thelemiten wenig paſſen; ſie iſt auch eher negativ, im
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[432/0442] nayz 1), bien instruictz, conversans en compaignies honnestes, ont par nature ung instinct et aguillon qui tousjours les poulse à faictz vertueux, et retire de vice: lequel ilz nommoyent honneur. 6. Abſchnitt. Es iſt derſelbe Glaube an die Güte der menſchlichen Na- tur, welcher auch die zweite Hälfte des XVIII. Jahrhunderts beſeelte und der franzöſiſchen Revolution die Wege bereiten half. Auch bei den Italienern appellirt Jeder individuell an dieſen ſeinen eigenen edeln Inſtinct, und wenn im Großen und Ganzen — hauptſächlich unter dem Eindruck des natio- nalen Unglückes — peſſimiſtiſcher geurtheilt oder empfunden wird, gleichwohl wird man immer jenes Ehrgefühl hoch halten müſſen. Wenn einmal die ſchrankenloſe Entwicklung des Individuums eine welthiſtoriſche Fügung, wenn ſie ſtärker war als der Wille des Einzelnen, ſo iſt auch dieſe gegenwirkende Kraft, wo ſie im damaligen Italien vorkömmt, eine große Erſcheinung. Wie oft und gegen welch heftige Angriffe der Selbſtſucht ſie den Sieg davon trug, wiſſen wir eben nicht, und deßhalb reicht unſer menſchliches Urtheil überhaupt nicht aus, um den abſoluten moraliſchen Werth der Nation richtig zu ſchätzen. Was nun der Sittlichkeit des höher entwickelten Ita- lieners der Renaiſſance als wichtigſte allgemeine Voraus- ſetzung gegenüberſteht, iſt die Phantaſie. Sie vor allem verleiht ſeinen Tugenden und Fehlern ihre beſondere Farbe; unter ihrer Herrſchaft gewinnt ſeine entfeſſelte Selbſtſucht erſt ihre volle Furchtbarkeit. Die Phantaſie und ihre Herr- ſchaft. 1) D. h. wohlgeboren im höhern Sinn, denn Rabelais, der Wirthsſohn von Chinon, hat keine Urſache, dem Adel als ſolchem hier ein Vor- recht zu geſtatten. — Die Predigt des Evangeliums, von welcher in der Inſchrift des Kloſters die Rede iſt, würde zu dem ſonſtigen Leben der Thelemiten wenig paſſen; ſie iſt auch eher negativ, im Sinne des Trotzes gegen die römiſche Kirche zu deuten.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/442>, abgerufen am 26.04.2024.