Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

Bild:
<< vorherige Seite

an leidlichen Herbergen auf dem Lande würde sich auch5. Abschnitt.
durch die große Unsicherheit erklären.

Aus der ersten Hälfte des XVI. Jahrhunderts habenDer Galateo,
wir dann jene Schule der Höflichkeit, welche Giovanni
della Casa, ein geborner Florentiner, unter dem Titel: Il
Galateo
herausgab. Hier wird nicht nur die Reinlichkeit
im engern Sinne, sondern auch die Entwöhnung von allen
Gewohnheiten, die wir "unschicklich" zu nennen pflegen,
mit derselben untrüglichen Sicherheit vorgeschrieben, mit
welcher der Moralist für die höchsten Sittengesetze redet. In
andern Literaturen wird dergleichen weniger von der syste-
matischen Seite, als vielmehr mittelbar gelehrt, durch die
abschreckende Schilderung des Unflätigen 1).

Außerdem aber ist der Galateo eine schön und geist-und die gute
Lebensart.

voll geschriebene Unterweisung in der guten Lebensart, in
Delicatesse und Tact überhaupt. Noch heute können ihn
Leute jedes Standes mit großem Nutzen lesen und die Höflich-
keit des alten Europa's wird wohl schwerlich mehr über
seine Vorschriften hinauskommen. Insofern der Tact Her-
zenssache ist, wird er von Anfang aller Cultur an bei allen
Völkern gewissen Menschen angeboren gewesen sein und
Einige werden ihn auch durch Willenskraft erworben
haben, allein als allgemeine gesellige Pflicht und als Kenn-
zeichen von Bildung und Erziehung haben ihn erst die
Italiener erkannt. Und Italien selbst hatte seit zwei Jahr-
hunderten sich sehr verändert. Man empfindet deutlich,
daß die Zeit der bösen Späße zwischen Bekannten und Halb-

Col. 1175. -- Florenz hatte vor Porta S. Gallo eine von den
größten und schönsten Osterien die man kannte, doch wie es scheint,
nur als Erholungsort für die Leute aus der Stadt. Varchi, stor.
fiorent. III, p. 86.
1) Man vgl. z. B. die betreffenden Partien in Sebastian Brant's Nar-
renschiff, in Erasmus Colloquien, in dem lateinischen Gedicht Gro-
bianus etc.
24*

an leidlichen Herbergen auf dem Lande würde ſich auch5. Abſchnitt.
durch die große Unſicherheit erklären.

Aus der erſten Hälfte des XVI. Jahrhunderts habenDer Galateo,
wir dann jene Schule der Höflichkeit, welche Giovanni
della Caſa, ein geborner Florentiner, unter dem Titel: Il
Galateo
herausgab. Hier wird nicht nur die Reinlichkeit
im engern Sinne, ſondern auch die Entwöhnung von allen
Gewohnheiten, die wir „unſchicklich“ zu nennen pflegen,
mit derſelben untrüglichen Sicherheit vorgeſchrieben, mit
welcher der Moraliſt für die höchſten Sittengeſetze redet. In
andern Literaturen wird dergleichen weniger von der ſyſte-
matiſchen Seite, als vielmehr mittelbar gelehrt, durch die
abſchreckende Schilderung des Unflätigen 1).

Außerdem aber iſt der Galateo eine ſchön und geiſt-und die gute
Lebensart.

voll geſchriebene Unterweiſung in der guten Lebensart, in
Delicateſſe und Tact überhaupt. Noch heute können ihn
Leute jedes Standes mit großem Nutzen leſen und die Höflich-
keit des alten Europa's wird wohl ſchwerlich mehr über
ſeine Vorſchriften hinauskommen. Inſofern der Tact Her-
zensſache iſt, wird er von Anfang aller Cultur an bei allen
Völkern gewiſſen Menſchen angeboren geweſen ſein und
Einige werden ihn auch durch Willenskraft erworben
haben, allein als allgemeine geſellige Pflicht und als Kenn-
zeichen von Bildung und Erziehung haben ihn erſt die
Italiener erkannt. Und Italien ſelbſt hatte ſeit zwei Jahr-
hunderten ſich ſehr verändert. Man empfindet deutlich,
daß die Zeit der böſen Späße zwiſchen Bekannten und Halb-

Col. 1175. — Florenz hatte vor Porta S. Gallo eine von den
größten und ſchönſten Oſterien die man kannte, doch wie es ſcheint,
nur als Erholungsort für die Leute aus der Stadt. Varchi, stor.
fiorent. III, p. 86.
1) Man vgl. z. B. die betreffenden Partien in Sebaſtian Brant's Nar-
renſchiff, in Erasmus Colloquien, in dem lateiniſchen Gedicht Gro-
bianus ꝛc.
24*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0381" n="371"/>
an leidlichen Herbergen auf dem Lande würde &#x017F;ich auch<note place="right"><hi rendition="#b"><hi rendition="#u">5. Ab&#x017F;chnitt.</hi></hi></note><lb/>
durch die große Un&#x017F;icherheit erklären.</p><lb/>
        <p>Aus der er&#x017F;ten Hälfte des <hi rendition="#aq">XVI.</hi> Jahrhunderts haben<note place="right">Der Galateo,</note><lb/>
wir dann jene Schule der Höflichkeit, welche Giovanni<lb/>
della Ca&#x017F;a, ein geborner Florentiner, unter dem Titel: <hi rendition="#aq">Il<lb/>
Galateo</hi> herausgab. Hier wird nicht nur die Reinlichkeit<lb/>
im engern Sinne, &#x017F;ondern auch die Entwöhnung von allen<lb/>
Gewohnheiten, die wir &#x201E;un&#x017F;chicklich&#x201C; zu nennen pflegen,<lb/>
mit der&#x017F;elben untrüglichen Sicherheit vorge&#x017F;chrieben, mit<lb/>
welcher der Morali&#x017F;t für die höch&#x017F;ten Sittenge&#x017F;etze redet. In<lb/>
andern Literaturen wird dergleichen weniger von der &#x017F;y&#x017F;te-<lb/>
mati&#x017F;chen Seite, als vielmehr mittelbar gelehrt, durch die<lb/>
ab&#x017F;chreckende Schilderung des Unflätigen <note place="foot" n="1)">Man vgl. z. B. die betreffenden Partien in Seba&#x017F;tian Brant's Nar-<lb/>
ren&#x017F;chiff, in Erasmus Colloquien, in dem lateini&#x017F;chen Gedicht Gro-<lb/>
bianus &#xA75B;c.</note>.</p><lb/>
        <p>Außerdem aber i&#x017F;t der Galateo eine &#x017F;chön und gei&#x017F;t-<note place="right">und die gute<lb/>
Lebensart.</note><lb/>
voll ge&#x017F;chriebene Unterwei&#x017F;ung in der guten Lebensart, in<lb/>
Delicate&#x017F;&#x017F;e und Tact überhaupt. Noch heute können ihn<lb/>
Leute jedes Standes mit großem Nutzen le&#x017F;en und die Höflich-<lb/>
keit des alten Europa's wird wohl &#x017F;chwerlich mehr über<lb/>
&#x017F;eine Vor&#x017F;chriften hinauskommen. In&#x017F;ofern der Tact Her-<lb/>
zens&#x017F;ache i&#x017F;t, wird er von Anfang aller Cultur an bei allen<lb/>
Völkern gewi&#x017F;&#x017F;en Men&#x017F;chen angeboren gewe&#x017F;en &#x017F;ein und<lb/>
Einige werden ihn auch durch Willenskraft erworben<lb/>
haben, allein als allgemeine ge&#x017F;ellige Pflicht und als Kenn-<lb/>
zeichen von Bildung und Erziehung haben ihn er&#x017F;t die<lb/>
Italiener erkannt. Und Italien &#x017F;elb&#x017F;t hatte &#x017F;eit zwei Jahr-<lb/>
hunderten &#x017F;ich &#x017F;ehr verändert. Man empfindet deutlich,<lb/>
daß die Zeit der bö&#x017F;en Späße zwi&#x017F;chen Bekannten und Halb-<lb/><note xml:id="seg2pn_23_2" prev="#seg2pn_23_1" place="foot" n="5)"><hi rendition="#aq">Col. 1175.</hi> &#x2014; Florenz hatte vor Porta S. Gallo eine von den<lb/>
größten und &#x017F;chön&#x017F;ten O&#x017F;terien die man kannte, doch wie es &#x017F;cheint,<lb/>
nur als Erholungsort für die Leute aus der Stadt. <hi rendition="#aq">Varchi, stor.<lb/>
fiorent. III, p. 86.</hi></note><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">24*</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[371/0381] an leidlichen Herbergen auf dem Lande würde ſich auch durch die große Unſicherheit erklären. 5. Abſchnitt. Aus der erſten Hälfte des XVI. Jahrhunderts haben wir dann jene Schule der Höflichkeit, welche Giovanni della Caſa, ein geborner Florentiner, unter dem Titel: Il Galateo herausgab. Hier wird nicht nur die Reinlichkeit im engern Sinne, ſondern auch die Entwöhnung von allen Gewohnheiten, die wir „unſchicklich“ zu nennen pflegen, mit derſelben untrüglichen Sicherheit vorgeſchrieben, mit welcher der Moraliſt für die höchſten Sittengeſetze redet. In andern Literaturen wird dergleichen weniger von der ſyſte- matiſchen Seite, als vielmehr mittelbar gelehrt, durch die abſchreckende Schilderung des Unflätigen 1). Der Galateo, Außerdem aber iſt der Galateo eine ſchön und geiſt- voll geſchriebene Unterweiſung in der guten Lebensart, in Delicateſſe und Tact überhaupt. Noch heute können ihn Leute jedes Standes mit großem Nutzen leſen und die Höflich- keit des alten Europa's wird wohl ſchwerlich mehr über ſeine Vorſchriften hinauskommen. Inſofern der Tact Her- zensſache iſt, wird er von Anfang aller Cultur an bei allen Völkern gewiſſen Menſchen angeboren geweſen ſein und Einige werden ihn auch durch Willenskraft erworben haben, allein als allgemeine geſellige Pflicht und als Kenn- zeichen von Bildung und Erziehung haben ihn erſt die Italiener erkannt. Und Italien ſelbſt hatte ſeit zwei Jahr- hunderten ſich ſehr verändert. Man empfindet deutlich, daß die Zeit der böſen Späße zwiſchen Bekannten und Halb- 5) und die gute Lebensart. 1) Man vgl. z. B. die betreffenden Partien in Sebaſtian Brant's Nar- renſchiff, in Erasmus Colloquien, in dem lateiniſchen Gedicht Gro- bianus ꝛc. 5) Col. 1175. — Florenz hatte vor Porta S. Gallo eine von den größten und ſchönſten Oſterien die man kannte, doch wie es ſcheint, nur als Erholungsort für die Leute aus der Stadt. Varchi, stor. fiorent. III, p. 86. 24*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/381
Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/381>, abgerufen am 25.04.2024.