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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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Der dritte in diesem Verein ist Angelo Poliziano mit4. Abschnitt.
seinem Rusticus 1) in lateinischen Hexametern. Er schildert,Poliziano.
unabhängig von Virgils Georgica, speciell das toscanische
Bauernjahr, beginnend mit dem Spätherbst, da der Land-
mann einen neuen Pflug schnitzt und die Wintersaat bestellt.
Sehr reich und schön ist die Schilderung der Fluren im
Frühling und auch der Sommer enthält vorzügliche Stellen;
als eine Perle aller neulateinischen Poesie aber darf das
Kelterfest im Herbste gelten. Auch auf italienisch hat Po-
liziano Einzelnes gedichtet, woraus hervorgeht, daß man im
Kreise des Lorenzo bereits irgend ein Bild aus dem leiden-
schaftlich bewegten Leben der untern Stände realistisch be-
handeln durfte. Sein Liebeslied des Zigeuners 2) ist wohl
eines der frühsten Producte der echt modernen Tendenz,
sich in die Lage irgend einer Menschenclasse mit poetischem
Bewußtsein hineinzuversetzen. Mit komischer Absicht war
dergleichen wohl von jeher versucht worden 3) und in Flo-
renz boten die Gesänge der Maskenzüge sogar eine bei jedem
Carneval wiederkehrende Gelegenheit hiezu. Neu aber ist
das Eingehen auf die Gefühlswelt eines Andern, womit
die Nencia und diese "Canzone zingaresca" einen denk-
würdigen neuen Anfang in der Geschichte der Poesie aus-
machen.

Auch hier muß schließlich darauf hingewiesen werden,
wie die Bildung der Kunst vorangeht. Von der Nencia
an dauert es wohl achtzig Jahre bis zu den ländlichen
Genremalereien des Jacopo Bassano und seiner Schule.

Im nächsten Abschnitt wird es sich zeigen, daß in Ita-
lien damals die Geburtsunterschiede zwischen den Menschen-

1) U. a. in den Deliciae poetar. ital. und in den Werken Poliziano's.
-- Die Lehrgedichte des Rucellai und Alamanni, welche einiges
Aehnliche enthalten sollen, stehen mir nicht zu Gebote.
2) Poesie di Lorenzo m. II, p. 75.
3) Dahin gehört schon das Nachmachen verschiedener Dialecte, wozu das
der Landesmanieren sich gesellt haben muß. Vgl. S. 155.
Cultur der Renaissance. 23

Der dritte in dieſem Verein iſt Angelo Poliziano mit4. Abſchnitt.
ſeinem Ruſticus 1) in lateiniſchen Hexametern. Er ſchildert,Poliziano.
unabhängig von Virgils Georgica, ſpeciell das toscaniſche
Bauernjahr, beginnend mit dem Spätherbſt, da der Land-
mann einen neuen Pflug ſchnitzt und die Winterſaat beſtellt.
Sehr reich und ſchön iſt die Schilderung der Fluren im
Frühling und auch der Sommer enthält vorzügliche Stellen;
als eine Perle aller neulateiniſchen Poeſie aber darf das
Kelterfeſt im Herbſte gelten. Auch auf italieniſch hat Po-
liziano Einzelnes gedichtet, woraus hervorgeht, daß man im
Kreiſe des Lorenzo bereits irgend ein Bild aus dem leiden-
ſchaftlich bewegten Leben der untern Stände realiſtiſch be-
handeln durfte. Sein Liebeslied des Zigeuners 2) iſt wohl
eines der frühſten Producte der echt modernen Tendenz,
ſich in die Lage irgend einer Menſchenclaſſe mit poetiſchem
Bewußtſein hineinzuverſetzen. Mit komiſcher Abſicht war
dergleichen wohl von jeher verſucht worden 3) und in Flo-
renz boten die Geſänge der Maskenzüge ſogar eine bei jedem
Carneval wiederkehrende Gelegenheit hiezu. Neu aber iſt
das Eingehen auf die Gefühlswelt eines Andern, womit
die Nencia und dieſe „Canzone zingaresca“ einen denk-
würdigen neuen Anfang in der Geſchichte der Poeſie aus-
machen.

Auch hier muß ſchließlich darauf hingewieſen werden,
wie die Bildung der Kunſt vorangeht. Von der Nencia
an dauert es wohl achtzig Jahre bis zu den ländlichen
Genremalereien des Jacopo Baſſano und ſeiner Schule.

Im nächſten Abſchnitt wird es ſich zeigen, daß in Ita-
lien damals die Geburtsunterſchiede zwiſchen den Menſchen-

1) U. a. in den Deliciæ poetar. ital. und in den Werken Poliziano's.
— Die Lehrgedichte des Rucellai und Alamanni, welche einiges
Aehnliche enthalten ſollen, ſtehen mir nicht zu Gebote.
2) Poesie di Lorenzo m. II, p. 75.
3) Dahin gehört ſchon das Nachmachen verſchiedener Dialecte, wozu das
der Landesmanieren ſich geſellt haben muß. Vgl. S. 155.
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[353/0363] Der dritte in dieſem Verein iſt Angelo Poliziano mit ſeinem Ruſticus 1) in lateiniſchen Hexametern. Er ſchildert, unabhängig von Virgils Georgica, ſpeciell das toscaniſche Bauernjahr, beginnend mit dem Spätherbſt, da der Land- mann einen neuen Pflug ſchnitzt und die Winterſaat beſtellt. Sehr reich und ſchön iſt die Schilderung der Fluren im Frühling und auch der Sommer enthält vorzügliche Stellen; als eine Perle aller neulateiniſchen Poeſie aber darf das Kelterfeſt im Herbſte gelten. Auch auf italieniſch hat Po- liziano Einzelnes gedichtet, woraus hervorgeht, daß man im Kreiſe des Lorenzo bereits irgend ein Bild aus dem leiden- ſchaftlich bewegten Leben der untern Stände realiſtiſch be- handeln durfte. Sein Liebeslied des Zigeuners 2) iſt wohl eines der frühſten Producte der echt modernen Tendenz, ſich in die Lage irgend einer Menſchenclaſſe mit poetiſchem Bewußtſein hineinzuverſetzen. Mit komiſcher Abſicht war dergleichen wohl von jeher verſucht worden 3) und in Flo- renz boten die Geſänge der Maskenzüge ſogar eine bei jedem Carneval wiederkehrende Gelegenheit hiezu. Neu aber iſt das Eingehen auf die Gefühlswelt eines Andern, womit die Nencia und dieſe „Canzone zingaresca“ einen denk- würdigen neuen Anfang in der Geſchichte der Poeſie aus- machen. 4. Abſchnitt. Poliziano. Auch hier muß ſchließlich darauf hingewieſen werden, wie die Bildung der Kunſt vorangeht. Von der Nencia an dauert es wohl achtzig Jahre bis zu den ländlichen Genremalereien des Jacopo Baſſano und ſeiner Schule. Im nächſten Abſchnitt wird es ſich zeigen, daß in Ita- lien damals die Geburtsunterſchiede zwiſchen den Menſchen- 1) U. a. in den Deliciæ poetar. ital. und in den Werken Poliziano's. — Die Lehrgedichte des Rucellai und Alamanni, welche einiges Aehnliche enthalten ſollen, ſtehen mir nicht zu Gebote. 2) Poesie di Lorenzo m. II, p. 75. 3) Dahin gehört ſchon das Nachmachen verſchiedener Dialecte, wozu das der Landesmanieren ſich geſellt haben muß. Vgl. S. 155. Cultur der Renaiſſance. 23

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/363>, abgerufen am 28.03.2024.