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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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lich ein anderes Werk irgend aufkommen. Der um ein4. Abschnitt.
starkes halbes Jahrhundert spätere Brantome z. B. ist ein
geringer Kenner dagegen, weil ihn die Lüsternheit und nicht
der Schönheitssinn leitet.


Zu der Entdeckung des Menschen dürfen wir endlichSchilderung
des bewegten
Lebens.

auch die schildernde Theilnahme an dem wirklichen bewegten
Menschenleben rechnen.

Die ganze komische und satirische Seite der mittelalter-
lichen Literaturen hatte zu ihren Zwecken das Bild des
gemeinen Lebens nicht entbehren können. Etwas ganz
anderes ist es, wenn die Italiener der Renaissance dieses
Bild um seiner selber willen ausmalen, weil es an sich
interessant, weil es ein Stück des großen allgemeinen
Weltlebens ist, von welchem sie sich zauberhaft umwogt
fühlen. Statt und neben der Tendenzkomik, welche sich in
den Häusern, auf den Gassen, in den Dörfern herumtreibt,
weil sie Bürgern, Bauern und Pfaffen eines anhängen
will, treffen wir hier in der Literatur die Anfänge des
echten Genre, lange Zeit bevor sich die Malerei damit
abgiebt. Daß Beides sich dann oft wieder verbindet, hindert
nicht, daß es verschiedene Dinge sind.

Wie viel irdisches Geschehen muß Dante aufmerksamBei Dante.
und theilnehmend angesehen haben bis er die Vorgänge
seines Jenseits so ganz sinnlich wahr schildern konnte 1).
Die berühmten Bilder von der Thätigkeit im Arsenal zu
Venedig, vom Aneinanderlehnen der Blinden vor den Kirch-
thüren 2) u. dgl. sind lange nicht die einzigen Beweise dieser
Art; schon seine Kunst, den Seelenzustand in der äußern
Geberde darzustellen, zeigt ein großes und beharrliches
Studium des Lebens.

1) Ueber die Wahrheit seines Raumsinns vgl. S. 295, Anm.
2) Inferno XXI, 7. Purgat. XIII, 61.

lich ein anderes Werk irgend aufkommen. Der um ein4. Abſchnitt.
ſtarkes halbes Jahrhundert ſpätere Brantome z. B. iſt ein
geringer Kenner dagegen, weil ihn die Lüſternheit und nicht
der Schönheitsſinn leitet.


Zu der Entdeckung des Menſchen dürfen wir endlichSchilderung
des bewegten
Lebens.

auch die ſchildernde Theilnahme an dem wirklichen bewegten
Menſchenleben rechnen.

Die ganze komiſche und ſatiriſche Seite der mittelalter-
lichen Literaturen hatte zu ihren Zwecken das Bild des
gemeinen Lebens nicht entbehren können. Etwas ganz
anderes iſt es, wenn die Italiener der Renaiſſance dieſes
Bild um ſeiner ſelber willen ausmalen, weil es an ſich
intereſſant, weil es ein Stück des großen allgemeinen
Weltlebens iſt, von welchem ſie ſich zauberhaft umwogt
fühlen. Statt und neben der Tendenzkomik, welche ſich in
den Häuſern, auf den Gaſſen, in den Dörfern herumtreibt,
weil ſie Bürgern, Bauern und Pfaffen eines anhängen
will, treffen wir hier in der Literatur die Anfänge des
echten Genre, lange Zeit bevor ſich die Malerei damit
abgiebt. Daß Beides ſich dann oft wieder verbindet, hindert
nicht, daß es verſchiedene Dinge ſind.

Wie viel irdiſches Geſchehen muß Dante aufmerkſamBei Dante.
und theilnehmend angeſehen haben bis er die Vorgänge
ſeines Jenſeits ſo ganz ſinnlich wahr ſchildern konnte 1).
Die berühmten Bilder von der Thätigkeit im Arſenal zu
Venedig, vom Aneinanderlehnen der Blinden vor den Kirch-
thüren 2) u. dgl. ſind lange nicht die einzigen Beweiſe dieſer
Art; ſchon ſeine Kunſt, den Seelenzuſtand in der äußern
Geberde darzuſtellen, zeigt ein großes und beharrliches
Studium des Lebens.

1) Ueber die Wahrheit ſeines Raumſinns vgl. S. 295, Anm.
2) Inferno XXI, 7. Purgat. XIII, 61.
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[347/0357] lich ein anderes Werk irgend aufkommen. Der um ein ſtarkes halbes Jahrhundert ſpätere Brantome z. B. iſt ein geringer Kenner dagegen, weil ihn die Lüſternheit und nicht der Schönheitsſinn leitet. 4. Abſchnitt. Zu der Entdeckung des Menſchen dürfen wir endlich auch die ſchildernde Theilnahme an dem wirklichen bewegten Menſchenleben rechnen. Schilderung des bewegten Lebens. Die ganze komiſche und ſatiriſche Seite der mittelalter- lichen Literaturen hatte zu ihren Zwecken das Bild des gemeinen Lebens nicht entbehren können. Etwas ganz anderes iſt es, wenn die Italiener der Renaiſſance dieſes Bild um ſeiner ſelber willen ausmalen, weil es an ſich intereſſant, weil es ein Stück des großen allgemeinen Weltlebens iſt, von welchem ſie ſich zauberhaft umwogt fühlen. Statt und neben der Tendenzkomik, welche ſich in den Häuſern, auf den Gaſſen, in den Dörfern herumtreibt, weil ſie Bürgern, Bauern und Pfaffen eines anhängen will, treffen wir hier in der Literatur die Anfänge des echten Genre, lange Zeit bevor ſich die Malerei damit abgiebt. Daß Beides ſich dann oft wieder verbindet, hindert nicht, daß es verſchiedene Dinge ſind. Wie viel irdiſches Geſchehen muß Dante aufmerkſam und theilnehmend angeſehen haben bis er die Vorgänge ſeines Jenſeits ſo ganz ſinnlich wahr ſchildern konnte 1). Die berühmten Bilder von der Thätigkeit im Arſenal zu Venedig, vom Aneinanderlehnen der Blinden vor den Kirch- thüren 2) u. dgl. ſind lange nicht die einzigen Beweiſe dieſer Art; ſchon ſeine Kunſt, den Seelenzuſtand in der äußern Geberde darzuſtellen, zeigt ein großes und beharrliches Studium des Lebens. Bei Dante. 1) Ueber die Wahrheit ſeines Raumſinns vgl. S. 295, Anm. 2) Inferno XXI, 7. Purgat. XIII, 61.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/357>, abgerufen am 28.03.2024.