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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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4. Abschnitt.haben: Girolamo Cardano von Mailand (geb. 1500).
Cardano.Sein Büchlein de propria vita 1) wird selbst sein großes
Andenken in der Geschichte der Naturforschung und der Phi-
losophie überleben und übertönen wie die vita Benvenuto's
dessen Werke, obwohl der Werth der Schrift wesentlich ein
anderer ist. Cardano fühlt sich als Arzt selber den Puls
und schildert seine physische, intellectuelle und sittliche Per-
sönlichkeit sammt den Bedingungen, unter welchen sich die-
selbe entwickelt hatte, und zwar aufrichtig und objectiv, so
weit ihm dieß möglich war. Sein zugestandenes Vorbild,
Marc Aurel's Schrift auf sich selbst, konnte er in dieser
Beziehung deßhalb überbieten, weil ihn kein stoisches Tu-
gendgebot genirte. Er begehrt weder sich noch die Welt
zu schonen; beginnt doch sein Lebenslauf damit, daß seiner
Mutter die versuchte Abtreibung der Leibesfrucht nicht ge-
lang. Es ist schon viel, daß er den Gestirnen, die in seiner
Geburtsstunde gewaltet, nur seine Schicksale und seine in-
tellectuellen Eigenschaften auf die Rechnung schreibt und
nicht auch die sittlichen; übrigens gesteht er (Cap. 10) offen
ein, daß ihm der astrologisch erworbene Wahn, er werde
das vierzigste und höchstens das fünfundvierzigste Jahr
nicht überleben, in seiner Jugend viel geschadet habe. Doch
es ist uns hier nicht erlaubt, ein so stark verbreitetes, in
jeder Bibliothek vorhandenes Buch zu excerpiren. Wer es
liest, wird in die Dienstbarkeit jenes Mannes kommen, bis
er damit zu Ende ist. Cardano bekennt allerdings, daß er
ein falscher Spieler, rachsüchtig, gegen jede Reue verhärtet,
absichtlich verletzend im Reden gewesen; -- er bekennt es
freilich ohne Frechheit wie ohne fromme Zerknirschung, ja
ohne damit interessant werden zu wollen, vielmehr mit dem
einfachen, objectiven Wahrheitssinn eines Naturforschers.

1) Verfaßt in hohem Alter, um 1576. -- Ueber Cardano als Forscher
und Entdecker vgl. Libri, Hist. des sciences mathem., III,
p. 167, s
.

4. Abſchnitt.haben: Girolamo Cardano von Mailand (geb. 1500).
Cardano.Sein Büchlein de propria vita 1) wird ſelbſt ſein großes
Andenken in der Geſchichte der Naturforſchung und der Phi-
loſophie überleben und übertönen wie die vita Benvenuto's
deſſen Werke, obwohl der Werth der Schrift weſentlich ein
anderer iſt. Cardano fühlt ſich als Arzt ſelber den Puls
und ſchildert ſeine phyſiſche, intellectuelle und ſittliche Per-
ſönlichkeit ſammt den Bedingungen, unter welchen ſich die-
ſelbe entwickelt hatte, und zwar aufrichtig und objectiv, ſo
weit ihm dieß möglich war. Sein zugeſtandenes Vorbild,
Marc Aurel's Schrift auf ſich ſelbſt, konnte er in dieſer
Beziehung deßhalb überbieten, weil ihn kein ſtoiſches Tu-
gendgebot genirte. Er begehrt weder ſich noch die Welt
zu ſchonen; beginnt doch ſein Lebenslauf damit, daß ſeiner
Mutter die verſuchte Abtreibung der Leibesfrucht nicht ge-
lang. Es iſt ſchon viel, daß er den Geſtirnen, die in ſeiner
Geburtsſtunde gewaltet, nur ſeine Schickſale und ſeine in-
tellectuellen Eigenſchaften auf die Rechnung ſchreibt und
nicht auch die ſittlichen; übrigens geſteht er (Cap. 10) offen
ein, daß ihm der aſtrologiſch erworbene Wahn, er werde
das vierzigſte und höchſtens das fünfundvierzigſte Jahr
nicht überleben, in ſeiner Jugend viel geſchadet habe. Doch
es iſt uns hier nicht erlaubt, ein ſo ſtark verbreitetes, in
jeder Bibliothek vorhandenes Buch zu excerpiren. Wer es
liest, wird in die Dienſtbarkeit jenes Mannes kommen, bis
er damit zu Ende iſt. Cardano bekennt allerdings, daß er
ein falſcher Spieler, rachſüchtig, gegen jede Reue verhärtet,
abſichtlich verletzend im Reden geweſen; — er bekennt es
freilich ohne Frechheit wie ohne fromme Zerknirſchung, ja
ohne damit intereſſant werden zu wollen, vielmehr mit dem
einfachen, objectiven Wahrheitsſinn eines Naturforſchers.

1) Verfaßt in hohem Alter, um 1576. — Ueber Cardano als Forſcher
und Entdecker vgl. Libri, Hist. des sciences mathém., III,
p. 167, s
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[334/0344] haben: Girolamo Cardano von Mailand (geb. 1500). Sein Büchlein de propria vita 1) wird ſelbſt ſein großes Andenken in der Geſchichte der Naturforſchung und der Phi- loſophie überleben und übertönen wie die vita Benvenuto's deſſen Werke, obwohl der Werth der Schrift weſentlich ein anderer iſt. Cardano fühlt ſich als Arzt ſelber den Puls und ſchildert ſeine phyſiſche, intellectuelle und ſittliche Per- ſönlichkeit ſammt den Bedingungen, unter welchen ſich die- ſelbe entwickelt hatte, und zwar aufrichtig und objectiv, ſo weit ihm dieß möglich war. Sein zugeſtandenes Vorbild, Marc Aurel's Schrift auf ſich ſelbſt, konnte er in dieſer Beziehung deßhalb überbieten, weil ihn kein ſtoiſches Tu- gendgebot genirte. Er begehrt weder ſich noch die Welt zu ſchonen; beginnt doch ſein Lebenslauf damit, daß ſeiner Mutter die verſuchte Abtreibung der Leibesfrucht nicht ge- lang. Es iſt ſchon viel, daß er den Geſtirnen, die in ſeiner Geburtsſtunde gewaltet, nur ſeine Schickſale und ſeine in- tellectuellen Eigenſchaften auf die Rechnung ſchreibt und nicht auch die ſittlichen; übrigens geſteht er (Cap. 10) offen ein, daß ihm der aſtrologiſch erworbene Wahn, er werde das vierzigſte und höchſtens das fünfundvierzigſte Jahr nicht überleben, in ſeiner Jugend viel geſchadet habe. Doch es iſt uns hier nicht erlaubt, ein ſo ſtark verbreitetes, in jeder Bibliothek vorhandenes Buch zu excerpiren. Wer es liest, wird in die Dienſtbarkeit jenes Mannes kommen, bis er damit zu Ende iſt. Cardano bekennt allerdings, daß er ein falſcher Spieler, rachſüchtig, gegen jede Reue verhärtet, abſichtlich verletzend im Reden geweſen; — er bekennt es freilich ohne Frechheit wie ohne fromme Zerknirſchung, ja ohne damit intereſſant werden zu wollen, vielmehr mit dem einfachen, objectiven Wahrheitsſinn eines Naturforſchers. 4. Abſchnitt. Cardano. 1) Verfaßt in hohem Alter, um 1576. — Ueber Cardano als Forſcher und Entdecker vgl. Libri, Hist. des sciences mathém., III, p. 167, s.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/344>, abgerufen am 20.04.2024.