Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

Bild:
<< vorherige Seite

für die Verlästerung des Papstes, für die Züchtigung ge-3. Abschnitt.
nannter wie ungenannter Feinde und Schlachtopfer, für
wirkliche wie für fingirte Gegenstände des Witzes, der Bos-
heit, der Trauer, der Contemplation gab es keine passendere
Form. Damals strengten sich für die berühmte GruppeCoryciana.
der Mutter Gottes mit der heil. Anna und dem Kinde,
welche Andrea Sansovino für St. Agostino meißelte, nicht
weniger als hundertundzwanzig Personen in lateinischen
Versen an, freilich nicht so sehr aus Andacht, als dem Be-
steller des Werkes zu Liebe 1). Dieser, Johann Goritz aus
Luxemburg, päpstlicher Supplikenreferendar, ließ nämlich
am St. Annenfeste nicht bloß etwa Gottesdienst halten,
sondern er gab ein großes Literatenbankett in seinen Gärten
am Abhang des Capitols. Damals lohnte es sich auch der
Mühe, die ganze Poetenschaar, welche an Leo's Hofe ihr
Glück suchte, in einem eigenen großen Gedicht "de poetis
urbanis"
zu mustern, wie Franc. Arsillus that 2), ein Mann,
der kein päpstliches oder anderes Mäcenat brauchte und sich
seine freie Zunge auch gegen die Collegen vorbehielt.
-- Ueber Paul III. herab reicht das Epigramm nur noch

1) Ueber diese ganze Angelegenheit s. Roscoe, Leone X, ed. Bossi
VII, 211. VIII, 214, s.
Die gedruckte, jetzt seltene Sammlung
dieser "Coryciana" vom J. 1524 enthält nur die lateinischen Ge-
dichte; Vasari sah bei den Augustinern noch ein besonderes Buch,
worin sich auch Sonette etc. befanden. Das Anheften von Gedichten
wurde so ansteckend, daß man die Gruppe durch ein Gitter abschließen,
ja unsichtbar machen mußte. Die Umdeutung von Goritz in einen
Corycius senex ist aus Virgil. Georg. IV, 127. Das kummer-
volle Ende des Mannes nach dem Sacco di Roma s. bei Pierio
Valeriano, de infelic. literat.
2) Abgedruckt in den Beilagen zu Roscoe, Leone X, und in den Deli-
ciae.
Vgl. Paul. Jov. Elogia, bei Anlaß des Arsillus. Ferner
für die große Zahl der Epigrammatiker Lil. Greg. Gyraldus, a.
a. O. Eine der schlimmsten Federn war Marcantonio Casanova.
-- Von den weniger bekannten ist Jo. Thomas Musconius (s. d.
Deliciae) auszuzeichnen.

für die Verläſterung des Papſtes, für die Züchtigung ge-3. Abſchnitt.
nannter wie ungenannter Feinde und Schlachtopfer, für
wirkliche wie für fingirte Gegenſtände des Witzes, der Bos-
heit, der Trauer, der Contemplation gab es keine paſſendere
Form. Damals ſtrengten ſich für die berühmte GruppeCoryciana.
der Mutter Gottes mit der heil. Anna und dem Kinde,
welche Andrea Sanſovino für St. Agoſtino meißelte, nicht
weniger als hundertundzwanzig Perſonen in lateiniſchen
Verſen an, freilich nicht ſo ſehr aus Andacht, als dem Be-
ſteller des Werkes zu Liebe 1). Dieſer, Johann Goritz aus
Luxemburg, päpſtlicher Supplikenreferendar, ließ nämlich
am St. Annenfeſte nicht bloß etwa Gottesdienſt halten,
ſondern er gab ein großes Literatenbankett in ſeinen Gärten
am Abhang des Capitols. Damals lohnte es ſich auch der
Mühe, die ganze Poetenſchaar, welche an Leo's Hofe ihr
Glück ſuchte, in einem eigenen großen Gedicht „de poetis
urbanis“
zu muſtern, wie Franc. Arſillus that 2), ein Mann,
der kein päpſtliches oder anderes Mäcenat brauchte und ſich
ſeine freie Zunge auch gegen die Collegen vorbehielt.
— Ueber Paul III. herab reicht das Epigramm nur noch

1) Ueber dieſe ganze Angelegenheit ſ. Roscoe, Leone X, ed. Bossi
VII, 211. VIII, 214, s.
Die gedruckte, jetzt ſeltene Sammlung
dieſer „Coryciana“ vom J. 1524 enthält nur die lateiniſchen Ge-
dichte; Vaſari ſah bei den Auguſtinern noch ein beſonderes Buch,
worin ſich auch Sonette ꝛc. befanden. Das Anheften von Gedichten
wurde ſo anſteckend, daß man die Gruppe durch ein Gitter abſchließen,
ja unſichtbar machen mußte. Die Umdeutung von Goritz in einen
Corycius senex iſt aus Virgil. Georg. IV, 127. Das kummer-
volle Ende des Mannes nach dem Sacco di Roma ſ. bei Pierio
Valeriano, de infelic. literat.
2) Abgedruckt in den Beilagen zu Roscoe, Leone X, und in den Deli-
ciæ.
Vgl. Paul. Jov. Elogia, bei Anlaß des Arſillus. Ferner
für die große Zahl der Epigrammatiker Lil. Greg. Gyraldus, a.
a. O. Eine der ſchlimmſten Federn war Marcantonio Caſanova.
— Von den weniger bekannten iſt Jo. Thomas Musconius (ſ. d.
Deliciæ) auszuzeichnen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0275" n="265"/>
für die Verlä&#x017F;terung des Pap&#x017F;tes, für die Züchtigung ge-<note place="right"><hi rendition="#b"><hi rendition="#u">3. Ab&#x017F;chnitt.</hi></hi></note><lb/>
nannter wie ungenannter Feinde und Schlachtopfer, für<lb/>
wirkliche wie für fingirte <choice><sic>Gegen&#x017F;tande</sic><corr>Gegen&#x017F;tände</corr></choice> des Witzes, der Bos-<lb/>
heit, der Trauer, der Contemplation gab es keine pa&#x017F;&#x017F;endere<lb/>
Form. Damals &#x017F;trengten &#x017F;ich für die berühmte Gruppe<note place="right">Coryciana.</note><lb/>
der Mutter Gottes mit der heil. Anna und dem Kinde,<lb/>
welche Andrea San&#x017F;ovino für St. Ago&#x017F;tino meißelte, nicht<lb/>
weniger als hundertundzwanzig Per&#x017F;onen in lateini&#x017F;chen<lb/>
Ver&#x017F;en an, freilich nicht &#x017F;o &#x017F;ehr aus Andacht, als dem Be-<lb/>
&#x017F;teller des Werkes zu Liebe <note place="foot" n="1)">Ueber die&#x017F;e ganze Angelegenheit &#x017F;. <hi rendition="#aq">Roscoe, Leone X, ed. Bossi<lb/>
VII, 211. VIII, 214, s.</hi> Die gedruckte, jetzt &#x017F;eltene Sammlung<lb/>
die&#x017F;er <hi rendition="#aq">&#x201E;Coryciana&#x201C;</hi> vom J. 1524 enthält nur die lateini&#x017F;chen Ge-<lb/>
dichte; Va&#x017F;ari &#x017F;ah bei den Augu&#x017F;tinern noch ein be&#x017F;onderes Buch,<lb/>
worin &#x017F;ich auch Sonette &#xA75B;c. befanden. Das Anheften von Gedichten<lb/>
wurde &#x017F;o an&#x017F;teckend, daß man die Gruppe durch ein Gitter ab&#x017F;chließen,<lb/>
ja un&#x017F;ichtbar machen mußte. Die Umdeutung von Goritz in einen<lb/><hi rendition="#aq">Corycius senex</hi> i&#x017F;t aus Virgil. Georg. <hi rendition="#aq">IV,</hi> 127. Das kummer-<lb/>
volle Ende des Mannes nach dem Sacco di Roma &#x017F;. bei <hi rendition="#aq">Pierio<lb/>
Valeriano, de infelic. literat.</hi></note>. Die&#x017F;er, Johann Goritz aus<lb/>
Luxemburg, päp&#x017F;tlicher Supplikenreferendar, ließ nämlich<lb/>
am St. Annenfe&#x017F;te nicht bloß etwa Gottesdien&#x017F;t halten,<lb/>
&#x017F;ondern er gab ein großes Literatenbankett in &#x017F;einen Gärten<lb/>
am Abhang des Capitols. Damals lohnte es &#x017F;ich auch der<lb/>
Mühe, die ganze Poeten&#x017F;chaar, welche an Leo's Hofe ihr<lb/>
Glück &#x017F;uchte, in einem eigenen großen Gedicht <hi rendition="#aq">&#x201E;de poetis<lb/>
urbanis&#x201C;</hi> zu mu&#x017F;tern, wie Franc. Ar&#x017F;illus that <note place="foot" n="2)">Abgedruckt in den Beilagen zu <hi rendition="#aq">Roscoe, Leone X,</hi> und in den <hi rendition="#aq">Deli-<lb/>
ciæ.</hi> Vgl. <hi rendition="#aq">Paul. Jov. Elogia,</hi> bei Anlaß des Ar&#x017F;illus. Ferner<lb/>
für die große Zahl der Epigrammatiker <hi rendition="#aq">Lil. Greg. Gyraldus,</hi> a.<lb/>
a. O. Eine der &#x017F;chlimm&#x017F;ten Federn war Marcantonio Ca&#x017F;anova.<lb/>
&#x2014; Von den weniger bekannten i&#x017F;t Jo. Thomas Musconius (&#x017F;. d.<lb/><hi rendition="#aq">Deliciæ</hi>) auszuzeichnen.</note>, ein Mann,<lb/>
der kein päp&#x017F;tliches oder anderes Mäcenat brauchte und &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;eine freie Zunge auch gegen die Collegen vorbehielt.<lb/>
&#x2014; Ueber Paul <hi rendition="#aq">III.</hi> herab reicht das Epigramm nur noch<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[265/0275] für die Verläſterung des Papſtes, für die Züchtigung ge- nannter wie ungenannter Feinde und Schlachtopfer, für wirkliche wie für fingirte Gegenſtände des Witzes, der Bos- heit, der Trauer, der Contemplation gab es keine paſſendere Form. Damals ſtrengten ſich für die berühmte Gruppe der Mutter Gottes mit der heil. Anna und dem Kinde, welche Andrea Sanſovino für St. Agoſtino meißelte, nicht weniger als hundertundzwanzig Perſonen in lateiniſchen Verſen an, freilich nicht ſo ſehr aus Andacht, als dem Be- ſteller des Werkes zu Liebe 1). Dieſer, Johann Goritz aus Luxemburg, päpſtlicher Supplikenreferendar, ließ nämlich am St. Annenfeſte nicht bloß etwa Gottesdienſt halten, ſondern er gab ein großes Literatenbankett in ſeinen Gärten am Abhang des Capitols. Damals lohnte es ſich auch der Mühe, die ganze Poetenſchaar, welche an Leo's Hofe ihr Glück ſuchte, in einem eigenen großen Gedicht „de poetis urbanis“ zu muſtern, wie Franc. Arſillus that 2), ein Mann, der kein päpſtliches oder anderes Mäcenat brauchte und ſich ſeine freie Zunge auch gegen die Collegen vorbehielt. — Ueber Paul III. herab reicht das Epigramm nur noch 3. Abſchnitt. Coryciana. 1) Ueber dieſe ganze Angelegenheit ſ. Roscoe, Leone X, ed. Bossi VII, 211. VIII, 214, s. Die gedruckte, jetzt ſeltene Sammlung dieſer „Coryciana“ vom J. 1524 enthält nur die lateiniſchen Ge- dichte; Vaſari ſah bei den Auguſtinern noch ein beſonderes Buch, worin ſich auch Sonette ꝛc. befanden. Das Anheften von Gedichten wurde ſo anſteckend, daß man die Gruppe durch ein Gitter abſchließen, ja unſichtbar machen mußte. Die Umdeutung von Goritz in einen Corycius senex iſt aus Virgil. Georg. IV, 127. Das kummer- volle Ende des Mannes nach dem Sacco di Roma ſ. bei Pierio Valeriano, de infelic. literat. 2) Abgedruckt in den Beilagen zu Roscoe, Leone X, und in den Deli- ciæ. Vgl. Paul. Jov. Elogia, bei Anlaß des Arſillus. Ferner für die große Zahl der Epigrammatiker Lil. Greg. Gyraldus, a. a. O. Eine der ſchlimmſten Federn war Marcantonio Caſanova. — Von den weniger bekannten iſt Jo. Thomas Musconius (ſ. d. Deliciæ) auszuzeichnen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/275
Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/275>, abgerufen am 25.11.2024.