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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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3. Abschnitt.Wer waren nun Diejenigen, welche das hochverehrte
Antikisirung der
Bildung.
Alterthum mit der Gegenwart vermittelten und das Erstere
zum Hauptinhalt der Bildung der letztern erhoben?

Es ist eine hundert gestaltige Schaar, die heute dieses,
morgen jenes Antlitz zeigt; so viel aber wußte die Zeit
und wußten sie selbst, daß sie ein neues Element der bür-
gerlichen Gesellschaft seien. Als ihre Vorläufer mögen am
ehesten jene vagirenden Cleriker des XII. Jahrhunderts
gelten, von deren Poesie oben (S. 173, f.) die Rede gewesen
ist; dasselbe unstäte Dasein, dieselbe freie und mehr als
freie Lebensansicht, und von derselben Antikisirung der
Poesie wenigstens der Anfang. Jetzt aber tritt der ganzen
wesentlich noch immer geistlichen und von Geistlichen ge-
pflegten Bildung des Mittelalters eine neue Bildung ent-
gegen, die sich vorzüglich an dasjenige hält, was jenseits
des Mittelalters liegt. Die activen Träger derselben werden
wichtige Personen 1) weil sie wissen was die Alten gewußt
haben, weil sie zu schreiben suchen wie die Alten schrieben,
weil sie zu denken und bald auch zu empfinden beginnen
wie die Alten dachten und empfanden. Die Tradition, der
sie sich widmen, geht an tausend Stellen in die Reproduc-
tion über.

Ihre Nach-
theile.
Es ist von Neuern öfter beklagt worden, daß die An-
fänge einer ungleich selbständigern, scheinbar wesentlich ita-
lienischen Bildung, wie sie um 1300 in Florenz sich zeigten,
nachher durch das Humanistenwesen so völlig überfluthet
worden seien 2). Damals habe in Florenz Alles lesen können,
selbst die Eseltreiber hätten Dante's Canzonen gesungen,
und die besten noch vorhandenen italienischen Manuscripte

1) Wie sie sich selber taxirten verräth z. B. Poggio (de avaritia,
Fol.
2), indem nach feiner Ansicht nur solche sagen können, sie
hätten gelebt, se vixisse, welche gelehrte und beredte lateinische
Bücher geschrieben oder Griechisches ins Lateinische übersetzt haben.
2) Bes. Libri, histoire des sciences mathem. II, 159, s. 258, s.

3. Abſchnitt.Wer waren nun Diejenigen, welche das hochverehrte
Antikiſirung der
Bildung.
Alterthum mit der Gegenwart vermittelten und das Erſtere
zum Hauptinhalt der Bildung der letztern erhoben?

Es iſt eine hundert geſtaltige Schaar, die heute dieſes,
morgen jenes Antlitz zeigt; ſo viel aber wußte die Zeit
und wußten ſie ſelbſt, daß ſie ein neues Element der bür-
gerlichen Geſellſchaft ſeien. Als ihre Vorläufer mögen am
eheſten jene vagirenden Cleriker des XII. Jahrhunderts
gelten, von deren Poeſie oben (S. 173, f.) die Rede geweſen
iſt; daſſelbe unſtäte Daſein, dieſelbe freie und mehr als
freie Lebensanſicht, und von derſelben Antikiſirung der
Poeſie wenigſtens der Anfang. Jetzt aber tritt der ganzen
weſentlich noch immer geiſtlichen und von Geiſtlichen ge-
pflegten Bildung des Mittelalters eine neue Bildung ent-
gegen, die ſich vorzüglich an dasjenige hält, was jenſeits
des Mittelalters liegt. Die activen Träger derſelben werden
wichtige Perſonen 1) weil ſie wiſſen was die Alten gewußt
haben, weil ſie zu ſchreiben ſuchen wie die Alten ſchrieben,
weil ſie zu denken und bald auch zu empfinden beginnen
wie die Alten dachten und empfanden. Die Tradition, der
ſie ſich widmen, geht an tauſend Stellen in die Reproduc-
tion über.

Ihre Nach-
theile.
Es iſt von Neuern öfter beklagt worden, daß die An-
fänge einer ungleich ſelbſtändigern, ſcheinbar weſentlich ita-
lieniſchen Bildung, wie ſie um 1300 in Florenz ſich zeigten,
nachher durch das Humaniſtenweſen ſo völlig überfluthet
worden ſeien 2). Damals habe in Florenz Alles leſen können,
ſelbſt die Eſeltreiber hätten Dante's Canzonen geſungen,
und die beſten noch vorhandenen italieniſchen Manuſcripte

1) Wie ſie ſich ſelber taxirten verräth z. B. Poggio (de avaritia,
Fol.
2), indem nach feiner Anſicht nur ſolche ſagen können, ſie
hätten gelebt, se vixisse, welche gelehrte und beredte lateiniſche
Bücher geſchrieben oder Griechiſches ins Lateiniſche überſetzt haben.
2) Beſ. Libri, histoire des sciences mathém. II, 159, s. 258, s.
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[198/0208] Wer waren nun Diejenigen, welche das hochverehrte Alterthum mit der Gegenwart vermittelten und das Erſtere zum Hauptinhalt der Bildung der letztern erhoben? 3. Abſchnitt. Antikiſirung der Bildung. Es iſt eine hundert geſtaltige Schaar, die heute dieſes, morgen jenes Antlitz zeigt; ſo viel aber wußte die Zeit und wußten ſie ſelbſt, daß ſie ein neues Element der bür- gerlichen Geſellſchaft ſeien. Als ihre Vorläufer mögen am eheſten jene vagirenden Cleriker des XII. Jahrhunderts gelten, von deren Poeſie oben (S. 173, f.) die Rede geweſen iſt; daſſelbe unſtäte Daſein, dieſelbe freie und mehr als freie Lebensanſicht, und von derſelben Antikiſirung der Poeſie wenigſtens der Anfang. Jetzt aber tritt der ganzen weſentlich noch immer geiſtlichen und von Geiſtlichen ge- pflegten Bildung des Mittelalters eine neue Bildung ent- gegen, die ſich vorzüglich an dasjenige hält, was jenſeits des Mittelalters liegt. Die activen Träger derſelben werden wichtige Perſonen 1) weil ſie wiſſen was die Alten gewußt haben, weil ſie zu ſchreiben ſuchen wie die Alten ſchrieben, weil ſie zu denken und bald auch zu empfinden beginnen wie die Alten dachten und empfanden. Die Tradition, der ſie ſich widmen, geht an tauſend Stellen in die Reproduc- tion über. Es iſt von Neuern öfter beklagt worden, daß die An- fänge einer ungleich ſelbſtändigern, ſcheinbar weſentlich ita- lieniſchen Bildung, wie ſie um 1300 in Florenz ſich zeigten, nachher durch das Humaniſtenweſen ſo völlig überfluthet worden ſeien 2). Damals habe in Florenz Alles leſen können, ſelbſt die Eſeltreiber hätten Dante's Canzonen geſungen, und die beſten noch vorhandenen italieniſchen Manuſcripte Ihre Nach- theile. 1) Wie ſie ſich ſelber taxirten verräth z. B. Poggio (de avaritia, Fol. 2), indem nach feiner Anſicht nur ſolche ſagen können, ſie hätten gelebt, se vixisse, welche gelehrte und beredte lateiniſche Bücher geſchrieben oder Griechiſches ins Lateiniſche überſetzt haben. 2) Beſ. Libri, histoire des sciences mathém. II, 159, s. 258, s.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/208>, abgerufen am 29.03.2024.