Der Staat hat seine Aufgabe nicht vollständig gelöst, wenn er bestimmt hat, welche Rechtssätze zu jeder Zeit gelten sollen und welche konkreten Pflichten sich aus der Anwendung dieser Rechtssätze auf jeden vorkommenden Fall ergeben; wenn er also das Recht in abstracto und in concreto gewiesen hat. Es genügt nicht, bestimmt zu haben, was rechtens ist, man muß es auch durchsetzen; denn nur darin liegt der Sinn des Rechts, daß es nicht theoretische Erkenntnis bleibt, sondern praktische Wirklich- keit wird; nur dazu wird die Rechtsidee in starre Rechtssätze ge- bannt und wird aus diesen Rechtssätzen der Schluß auf den vor- liegenden Fall gezogen, damit die konkrete Entscheidung ver- wirklicht werde. Um den Zwang einsetzen zu können, brauchen wir Entscheidungen; um entscheiden zu können, brauchen wir Rechtssätze. Wenn wir von vornherein von jedem Zwang absehen und die tatsächliche Befolgung der Pflicht dem Gewissen des Ver- pflichteten anheimstellten, hätte es keinen Sinn, Rechtssätze auf- zustellen und Urteile oder Verfügungen zu treffen: denn wenn das Urteil des Einzelnen über die Erfüllung der Pflicht entscheidet, entscheidet es auch über seine Pflicht selbst also über die Normen des Verhaltens und über ihre Anwendung auf den einzelnen Fall; wir bleiben dann allerdings in der Unsicherheit über das, was im gegenseitigen Verhalten verbindlich sein soll, aus der uns die positive Rechtsordnung helfen sollte. Zu dieser Rechtsordnung gehört also notwendig auch eine Vollstreckungsordnung, sonst ist der Gedanke des Rechts nicht zu Ende gedacht1.
In was besteht aber die Erzwingung des Rechts?
Da der Zwang nur auf konkrete Menschen zu bestimmter Zeit und an bestimmtem Orte angewendet werden kann, kann die abstrakte Rechtsnorm nur in konkreter Anwendung auf gegebene Fälle vollzogen werden: Daß "der Dieb" zu verhaften und daß
1 Deshalb kann man mit einer gewissen Berechtigung sagen, daß wo der Staat befehlen kann, er auch muß das Befohlene zwangsweise voll- ziehen können; vgl. Anschütz, Das Recht des Verwaltungszwanges in Preußen; Verwaltungsarchiv 1 390.
II. Teil. Die staatliche Verfassung.
3. Kapitel. Die Erzwingung des Rechts.
1. Der unmittelbare Zwang.
Der Staat hat seine Aufgabe nicht vollständig gelöst, wenn er bestimmt hat, welche Rechtssätze zu jeder Zeit gelten sollen und welche konkreten Pflichten sich aus der Anwendung dieser Rechtssätze auf jeden vorkommenden Fall ergeben; wenn er also das Recht in abstracto und in concreto gewiesen hat. Es genügt nicht, bestimmt zu haben, was rechtens ist, man muß es auch durchsetzen; denn nur darin liegt der Sinn des Rechts, daß es nicht theoretische Erkenntnis bleibt, sondern praktische Wirklich- keit wird; nur dazu wird die Rechtsidee in starre Rechtssätze ge- bannt und wird aus diesen Rechtssätzen der Schluß auf den vor- liegenden Fall gezogen, damit die konkrete Entscheidung ver- wirklicht werde. Um den Zwang einsetzen zu können, brauchen wir Entscheidungen; um entscheiden zu können, brauchen wir Rechtssätze. Wenn wir von vornherein von jedem Zwang absehen und die tatsächliche Befolgung der Pflicht dem Gewissen des Ver- pflichteten anheimstellten, hätte es keinen Sinn, Rechtssätze auf- zustellen und Urteile oder Verfügungen zu treffen: denn wenn das Urteil des Einzelnen über die Erfüllung der Pflicht entscheidet, entscheidet es auch über seine Pflicht selbst also über die Normen des Verhaltens und über ihre Anwendung auf den einzelnen Fall; wir bleiben dann allerdings in der Unsicherheit über das, was im gegenseitigen Verhalten verbindlich sein soll, aus der uns die positive Rechtsordnung helfen sollte. Zu dieser Rechtsordnung gehört also notwendig auch eine Vollstreckungsordnung, sonst ist der Gedanke des Rechts nicht zu Ende gedacht1.
In was besteht aber die Erzwingung des Rechts?
Da der Zwang nur auf konkrete Menschen zu bestimmter Zeit und an bestimmtem Orte angewendet werden kann, kann die abstrakte Rechtsnorm nur in konkreter Anwendung auf gegebene Fälle vollzogen werden: Daß „der Dieb“ zu verhaften und daß
1 Deshalb kann man mit einer gewissen Berechtigung sagen, daß wo der Staat befehlen kann, er auch muß das Befohlene zwangsweise voll- ziehen können; vgl. Anschütz, Das Recht des Verwaltungszwanges in Preußen; Verwaltungsarchiv 1 390.
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[280/0295]
II. Teil. Die staatliche Verfassung.
3. Kapitel.
Die Erzwingung des Rechts.
1. Der unmittelbare Zwang.
Der Staat hat seine Aufgabe nicht vollständig gelöst, wenn
er bestimmt hat, welche Rechtssätze zu jeder Zeit gelten sollen
und welche konkreten Pflichten sich aus der Anwendung dieser
Rechtssätze auf jeden vorkommenden Fall ergeben; wenn er also
das Recht in abstracto und in concreto gewiesen hat. Es genügt
nicht, bestimmt zu haben, was rechtens ist, man muß es auch
durchsetzen; denn nur darin liegt der Sinn des Rechts, daß es
nicht theoretische Erkenntnis bleibt, sondern praktische Wirklich-
keit wird; nur dazu wird die Rechtsidee in starre Rechtssätze ge-
bannt und wird aus diesen Rechtssätzen der Schluß auf den vor-
liegenden Fall gezogen, damit die konkrete Entscheidung ver-
wirklicht werde. Um den Zwang einsetzen zu können, brauchen
wir Entscheidungen; um entscheiden zu können, brauchen wir
Rechtssätze. Wenn wir von vornherein von jedem Zwang absehen
und die tatsächliche Befolgung der Pflicht dem Gewissen des Ver-
pflichteten anheimstellten, hätte es keinen Sinn, Rechtssätze auf-
zustellen und Urteile oder Verfügungen zu treffen: denn wenn das
Urteil des Einzelnen über die Erfüllung der Pflicht entscheidet,
entscheidet es auch über seine Pflicht selbst also über die Normen
des Verhaltens und über ihre Anwendung auf den einzelnen Fall;
wir bleiben dann allerdings in der Unsicherheit über das, was im
gegenseitigen Verhalten verbindlich sein soll, aus der uns die
positive Rechtsordnung helfen sollte. Zu dieser Rechtsordnung
gehört also notwendig auch eine Vollstreckungsordnung, sonst ist
der Gedanke des Rechts nicht zu Ende gedacht 1.
In was besteht aber die Erzwingung des Rechts?
Da der Zwang nur auf konkrete Menschen zu bestimmter Zeit
und an bestimmtem Orte angewendet werden kann, kann die
abstrakte Rechtsnorm nur in konkreter Anwendung auf gegebene
Fälle vollzogen werden: Daß „der Dieb“ zu verhaften und daß
1 Deshalb kann man mit einer gewissen Berechtigung sagen, daß wo
der Staat befehlen kann, er auch muß das Befohlene zwangsweise voll-
ziehen können; vgl. Anschütz, Das Recht des Verwaltungszwanges in
Preußen; Verwaltungsarchiv 1 390.
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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/295>, abgerufen am 21.11.2024.
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