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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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Die Rechtssetzung.
sehen werden kann. Allein Beweisbarkeit ist nicht Richtigkeit;
ein Urteil kann richtig sein, ohne beweisbar zu sein. Ja, jedes
beweisbare Urteil ist schließlich aus einem unbeweisbaren abge-
leitet, und dieses unbeweisbare Urteil ist das fruchtbare, erkennt-
nisbringende Urteil, nicht der unselbständig daraus entwickelte
Schluß. Wenn alles bewiesen werden müßte, könnte nichts be-
wiesen werden1. Jede Wissenschaft, jede logisch geordnete Lehre
von Einzelkenntnissen beruht auf unbeweisbaren Sätzen, die Er-
fahrungswissenschaften auf der Realität der Wahrnehmungen, die
ästhetischen Wissenschaften auf der Möglichkeit sachlicher ästhe-
tischer Urteile, die ethischen Wissenschaften auf der Möglichkeit
sachlicher Werturteile und alle drei außerdem auf der Richtigkeit
der logischen Axiome (des Satzes vom Widerspruch). Die Haupt-
sache bleibt immer unbewiesen: das Fundament des ganzen
Baues.

Es ist deshalb ein eitles Verfangen und ein überflüssiges Be-
mühen, dem Gesetzgeber einen äußeren Maßstab geben zu wollen,
an dem er die Richtigkeit seiner Entscheidungen gewissermaßen
ablesen könne, d. h. ein Mittel, das ihm gestatte, zu entscheiden,
ob sein Rechtssatz richtig sei, ohne daß er selbst zu entscheiden
brauchte, ob er richtig, gerecht und vernünftig sei. In dieser Weise
kann man dem Gesetzgeber nicht unter die Arme greifen. Man ver-
weist ihn z. B. auf die allgemeine Rechtsüberzeugung, auf die im
Volke herrschende Ansicht2. Allein, wenn der Gesetzgeber ent-
scheiden soll, welchen Sätzen rechtliche Verbindlichkeit zukommen
soll, wenn er dafür verantwortlich ist, wie kann er sich auf das
Urteil anderer berufen, die nach der Verfassung keinerlei Berufung
haben, diese Entscheidung zu treffen und die für ihre "Ansichten"
nicht verantwortlich sind? Wenn das ausgesprochene oder betätigte
Urteil anderer entscheiden soll, so ist also die Frage sachlich schon
entschieden, bevor der Gesetzgeber selbst sie erwogen hat? Das
ist aber nicht die Aufgabe eines Gesetzgebers und nicht die Meinung
der Verfassung. Der verfassungsrechtliche Satz, der der gesetz-
gebenden Kompetenz zugrunde liegt, lautet, daß das Parlament
bzw. das Volk, kurz das gesetzgebende Organ, die Entscheidung

1 Wie schon Aristoteles, Metaphysik Buch III, Kap. 2, gesagt hat.
v. Stahl, Philosophie des Rechts I 505 ff.
2 Vgl. Stammler, Richtiges Recht, 2. A., 114.

Die Rechtssetzung.
sehen werden kann. Allein Beweisbarkeit ist nicht Richtigkeit;
ein Urteil kann richtig sein, ohne beweisbar zu sein. Ja, jedes
beweisbare Urteil ist schließlich aus einem unbeweisbaren abge-
leitet, und dieses unbeweisbare Urteil ist das fruchtbare, erkennt-
nisbringende Urteil, nicht der unselbständig daraus entwickelte
Schluß. Wenn alles bewiesen werden müßte, könnte nichts be-
wiesen werden1. Jede Wissenschaft, jede logisch geordnete Lehre
von Einzelkenntnissen beruht auf unbeweisbaren Sätzen, die Er-
fahrungswissenschaften auf der Realität der Wahrnehmungen, die
ästhetischen Wissenschaften auf der Möglichkeit sachlicher ästhe-
tischer Urteile, die ethischen Wissenschaften auf der Möglichkeit
sachlicher Werturteile und alle drei außerdem auf der Richtigkeit
der logischen Axiome (des Satzes vom Widerspruch). Die Haupt-
sache bleibt immer unbewiesen: das Fundament des ganzen
Baues.

Es ist deshalb ein eitles Verfangen und ein überflüssiges Be-
mühen, dem Gesetzgeber einen äußeren Maßstab geben zu wollen,
an dem er die Richtigkeit seiner Entscheidungen gewissermaßen
ablesen könne, d. h. ein Mittel, das ihm gestatte, zu entscheiden,
ob sein Rechtssatz richtig sei, ohne daß er selbst zu entscheiden
brauchte, ob er richtig, gerecht und vernünftig sei. In dieser Weise
kann man dem Gesetzgeber nicht unter die Arme greifen. Man ver-
weist ihn z. B. auf die allgemeine Rechtsüberzeugung, auf die im
Volke herrschende Ansicht2. Allein, wenn der Gesetzgeber ent-
scheiden soll, welchen Sätzen rechtliche Verbindlichkeit zukommen
soll, wenn er dafür verantwortlich ist, wie kann er sich auf das
Urteil anderer berufen, die nach der Verfassung keinerlei Berufung
haben, diese Entscheidung zu treffen und die für ihre „Ansichten“
nicht verantwortlich sind? Wenn das ausgesprochene oder betätigte
Urteil anderer entscheiden soll, so ist also die Frage sachlich schon
entschieden, bevor der Gesetzgeber selbst sie erwogen hat? Das
ist aber nicht die Aufgabe eines Gesetzgebers und nicht die Meinung
der Verfassung. Der verfassungsrechtliche Satz, der der gesetz-
gebenden Kompetenz zugrunde liegt, lautet, daß das Parlament
bzw. das Volk, kurz das gesetzgebende Organ, die Entscheidung

1 Wie schon Aristoteles, Metaphysik Buch III, Kap. 2, gesagt hat.
v. Stahl, Philosophie des Rechts I 505 ff.
2 Vgl. Stammler, Richtiges Recht, 2. A., 114.
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[249/0264] Die Rechtssetzung. sehen werden kann. Allein Beweisbarkeit ist nicht Richtigkeit; ein Urteil kann richtig sein, ohne beweisbar zu sein. Ja, jedes beweisbare Urteil ist schließlich aus einem unbeweisbaren abge- leitet, und dieses unbeweisbare Urteil ist das fruchtbare, erkennt- nisbringende Urteil, nicht der unselbständig daraus entwickelte Schluß. Wenn alles bewiesen werden müßte, könnte nichts be- wiesen werden 1. Jede Wissenschaft, jede logisch geordnete Lehre von Einzelkenntnissen beruht auf unbeweisbaren Sätzen, die Er- fahrungswissenschaften auf der Realität der Wahrnehmungen, die ästhetischen Wissenschaften auf der Möglichkeit sachlicher ästhe- tischer Urteile, die ethischen Wissenschaften auf der Möglichkeit sachlicher Werturteile und alle drei außerdem auf der Richtigkeit der logischen Axiome (des Satzes vom Widerspruch). Die Haupt- sache bleibt immer unbewiesen: das Fundament des ganzen Baues. Es ist deshalb ein eitles Verfangen und ein überflüssiges Be- mühen, dem Gesetzgeber einen äußeren Maßstab geben zu wollen, an dem er die Richtigkeit seiner Entscheidungen gewissermaßen ablesen könne, d. h. ein Mittel, das ihm gestatte, zu entscheiden, ob sein Rechtssatz richtig sei, ohne daß er selbst zu entscheiden brauchte, ob er richtig, gerecht und vernünftig sei. In dieser Weise kann man dem Gesetzgeber nicht unter die Arme greifen. Man ver- weist ihn z. B. auf die allgemeine Rechtsüberzeugung, auf die im Volke herrschende Ansicht 2. Allein, wenn der Gesetzgeber ent- scheiden soll, welchen Sätzen rechtliche Verbindlichkeit zukommen soll, wenn er dafür verantwortlich ist, wie kann er sich auf das Urteil anderer berufen, die nach der Verfassung keinerlei Berufung haben, diese Entscheidung zu treffen und die für ihre „Ansichten“ nicht verantwortlich sind? Wenn das ausgesprochene oder betätigte Urteil anderer entscheiden soll, so ist also die Frage sachlich schon entschieden, bevor der Gesetzgeber selbst sie erwogen hat? Das ist aber nicht die Aufgabe eines Gesetzgebers und nicht die Meinung der Verfassung. Der verfassungsrechtliche Satz, der der gesetz- gebenden Kompetenz zugrunde liegt, lautet, daß das Parlament bzw. das Volk, kurz das gesetzgebende Organ, die Entscheidung 1 Wie schon Aristoteles, Metaphysik Buch III, Kap. 2, gesagt hat. v. Stahl, Philosophie des Rechts I 505 ff. 2 Vgl. Stammler, Richtiges Recht, 2. A., 114.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/264>, abgerufen am 23.11.2024.