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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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Die Rechtssetzung.
sein soll. Indessen wird es der Gesetzgeber selten hierüber an
jeder Andeutung fehlen lassen1, wie schon die erwähnten Formu-
lierungen zeigen. Meistens wird der Mangel darin bestehen, daß
er, statt begrifflich zu umschreiben, auf das Billige und Vernünftige
verweist, wie oben bemerkt, oder daß er zwar begrifflich zu um-
schreiben sucht, aber sich nicht klar und unzweideutig ausdrückt.
Wenn er z. B. von der Erbberechtigung der "Kinder" spricht,
können auch Großkinder gemeint sein; wenn er die Steuerpflicht
vom "Wohnen" abhängig macht, kann darunter der Wohnsitz im
zivilrechtlichen Sinn oder die bloße Tatsache des Wohnens ver-
standen sein; oder wenn er den Betrag der Steuer und die Zahlungs-
frist festsetzt, kann es zweifelhaft sein, ob der säumige Steuer-
schuldner zinspflichtig wird. Hätte sich der Gesetzgeber genauer
ausgedrückt, so wüßte es der Richter oder der Verwaltungsbeamte.
Da es aber der Gesetzgeber nicht deutlich gesagt hat, seine Formel
vielmehr mehrerer Deutungen fähig ist, muß der zur Anwendung
Berufene nachträglich tun, was der Gesetzgeber versäumt hat und
über den Sinn der unklaren Worte entscheiden. Er kann es aber
nicht nach anderen Gesichtspunkten tun, als es der Gesetzgeber
selbst hätte tun müssen, wenn er seine Gedanken unzweideutig
ausgedrückt hätte: nach dem Gesichtspunkt sachlicher Richtig-
keit. Die rechtsanwendende Behörde kann es zwar nicht mit der
allgemeinverbindlichen Wirkung tun, wie es der Gesetzgeber getan
hätte, da sie ja nur den einen Fall entscheiden kann; aber mit
dieser beschränkten Wirkung muß sie die Entscheidung in gleicher
Gedankenarbeit finden, wie sie der Gesetzgeber finden müßte; denn
sie setzt nur die unvollendete Geistesarbeit des Gesetzgebers fort.
Und der Richter tut grundsätzlich nichts anderes, wenn er einen
fehlenden Rechtssatz findet, "wie er ihn als Gesetzgeber aufstellen
würde", wenn er einen unvollständigen Rechtssatz durch Analogie
ergänzt oder wenn er einen undeutlichen Rechtssatz erläutert:
immer sieht er sich vor einer Gesetzgebung, die ihm die Rechts-
sätze, deren er bedarf, nicht vollständig zur Hand gibt, und die
er daher, in weiterem oder engerem Umfange, ergänzen muß.
Zwischen Ergänzung des Gesetzes durch Auffinden eines neuen

1 Nach Art des bekannten Schurkenparagraphen: "Jeder Schurke
wird bestraft."

Die Rechtssetzung.
sein soll. Indessen wird es der Gesetzgeber selten hierüber an
jeder Andeutung fehlen lassen1, wie schon die erwähnten Formu-
lierungen zeigen. Meistens wird der Mangel darin bestehen, daß
er, statt begrifflich zu umschreiben, auf das Billige und Vernünftige
verweist, wie oben bemerkt, oder daß er zwar begrifflich zu um-
schreiben sucht, aber sich nicht klar und unzweideutig ausdrückt.
Wenn er z. B. von der Erbberechtigung der „Kinder“ spricht,
können auch Großkinder gemeint sein; wenn er die Steuerpflicht
vom „Wohnen“ abhängig macht, kann darunter der Wohnsitz im
zivilrechtlichen Sinn oder die bloße Tatsache des Wohnens ver-
standen sein; oder wenn er den Betrag der Steuer und die Zahlungs-
frist festsetzt, kann es zweifelhaft sein, ob der säumige Steuer-
schuldner zinspflichtig wird. Hätte sich der Gesetzgeber genauer
ausgedrückt, so wüßte es der Richter oder der Verwaltungsbeamte.
Da es aber der Gesetzgeber nicht deutlich gesagt hat, seine Formel
vielmehr mehrerer Deutungen fähig ist, muß der zur Anwendung
Berufene nachträglich tun, was der Gesetzgeber versäumt hat und
über den Sinn der unklaren Worte entscheiden. Er kann es aber
nicht nach anderen Gesichtspunkten tun, als es der Gesetzgeber
selbst hätte tun müssen, wenn er seine Gedanken unzweideutig
ausgedrückt hätte: nach dem Gesichtspunkt sachlicher Richtig-
keit. Die rechtsanwendende Behörde kann es zwar nicht mit der
allgemeinverbindlichen Wirkung tun, wie es der Gesetzgeber getan
hätte, da sie ja nur den einen Fall entscheiden kann; aber mit
dieser beschränkten Wirkung muß sie die Entscheidung in gleicher
Gedankenarbeit finden, wie sie der Gesetzgeber finden müßte; denn
sie setzt nur die unvollendete Geistesarbeit des Gesetzgebers fort.
Und der Richter tut grundsätzlich nichts anderes, wenn er einen
fehlenden Rechtssatz findet, „wie er ihn als Gesetzgeber aufstellen
würde“, wenn er einen unvollständigen Rechtssatz durch Analogie
ergänzt oder wenn er einen undeutlichen Rechtssatz erläutert:
immer sieht er sich vor einer Gesetzgebung, die ihm die Rechts-
sätze, deren er bedarf, nicht vollständig zur Hand gibt, und die
er daher, in weiterem oder engerem Umfange, ergänzen muß.
Zwischen Ergänzung des Gesetzes durch Auffinden eines neuen

1 Nach Art des bekannten Schurkenparagraphen: „Jeder Schurke
wird bestraft.“
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[245/0260] Die Rechtssetzung. sein soll. Indessen wird es der Gesetzgeber selten hierüber an jeder Andeutung fehlen lassen 1, wie schon die erwähnten Formu- lierungen zeigen. Meistens wird der Mangel darin bestehen, daß er, statt begrifflich zu umschreiben, auf das Billige und Vernünftige verweist, wie oben bemerkt, oder daß er zwar begrifflich zu um- schreiben sucht, aber sich nicht klar und unzweideutig ausdrückt. Wenn er z. B. von der Erbberechtigung der „Kinder“ spricht, können auch Großkinder gemeint sein; wenn er die Steuerpflicht vom „Wohnen“ abhängig macht, kann darunter der Wohnsitz im zivilrechtlichen Sinn oder die bloße Tatsache des Wohnens ver- standen sein; oder wenn er den Betrag der Steuer und die Zahlungs- frist festsetzt, kann es zweifelhaft sein, ob der säumige Steuer- schuldner zinspflichtig wird. Hätte sich der Gesetzgeber genauer ausgedrückt, so wüßte es der Richter oder der Verwaltungsbeamte. Da es aber der Gesetzgeber nicht deutlich gesagt hat, seine Formel vielmehr mehrerer Deutungen fähig ist, muß der zur Anwendung Berufene nachträglich tun, was der Gesetzgeber versäumt hat und über den Sinn der unklaren Worte entscheiden. Er kann es aber nicht nach anderen Gesichtspunkten tun, als es der Gesetzgeber selbst hätte tun müssen, wenn er seine Gedanken unzweideutig ausgedrückt hätte: nach dem Gesichtspunkt sachlicher Richtig- keit. Die rechtsanwendende Behörde kann es zwar nicht mit der allgemeinverbindlichen Wirkung tun, wie es der Gesetzgeber getan hätte, da sie ja nur den einen Fall entscheiden kann; aber mit dieser beschränkten Wirkung muß sie die Entscheidung in gleicher Gedankenarbeit finden, wie sie der Gesetzgeber finden müßte; denn sie setzt nur die unvollendete Geistesarbeit des Gesetzgebers fort. Und der Richter tut grundsätzlich nichts anderes, wenn er einen fehlenden Rechtssatz findet, „wie er ihn als Gesetzgeber aufstellen würde“, wenn er einen unvollständigen Rechtssatz durch Analogie ergänzt oder wenn er einen undeutlichen Rechtssatz erläutert: immer sieht er sich vor einer Gesetzgebung, die ihm die Rechts- sätze, deren er bedarf, nicht vollständig zur Hand gibt, und die er daher, in weiterem oder engerem Umfange, ergänzen muß. Zwischen Ergänzung des Gesetzes durch Auffinden eines neuen 1 Nach Art des bekannten Schurkenparagraphen: „Jeder Schurke wird bestraft.“

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/260>, abgerufen am 22.11.2024.