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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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II. Teil. Die staatliche Verfassung.
ihr zustehende andere Aufgabe, das im Grundsatz gegebene Wert-
urteil auf den einzelnen Fall anzuwenden; mit anderen Worten:
es bleibt ihm keine bewertende Tätigkeit mehr, sondern nur noch
eine logische und historische Aufgabe: er hat die tatsächlichen
Voraussetzungen festzustellen, und sie logisch unter die Begriffe des
Rechtssatzes zu subsumieren. Diese logisch-historische Tätigkeit
nennt man häufig im eigentlichen Sinne die juristische, im Gegen-
satz zur wertenden Tätigkeit des Gesetzgebers1.

Damit aber der rechtsanwendenden Behörde nichts anderes
mehr bleibe, als das Recht anzuwenden, muß der Gesetzgeber
einesteils alle Rechtssätze aufstellen, die zur Vollständigkeit seiner
Rechtsordnung gehören, worüber bereits (S. 105 ff.) gesprochen
worden ist, und andernfalls die Rechtssätze, die er aufstellt, voll-
ständig formulieren, was hier noch kurz zu erörtern ist.

Ein Rechtssatz bestimmt, wie gewisse Personen unter gewissen
Voraussetzungen sich zu verhalten haben. Um vollständig zu sein,
muß der Rechtssatz also angeben, wer verpflichtet sein soll, unter
welchen Voraussetzungen und zu was er verpflichtet sein soll; er
muß das Subjekt (oder die Subjekte), die Voraussetzungen und
den Inhalt der Verpflichtung angeben.

Fehlt einer dieser Bestandteile, so ist der Rechtssatz unvoll-
ständig. Wenn ein Gesetz z. B. bestimmt, daß Stacheldrahtzäune
längs der öffentlichen Wege verboten sind, so bleibt unentschieden,
wer dafür haften soll, der Eigentümer des Grundstückes, der In-
haber oder der Veranstalter. Wenn es bloß heißt, daß Stacheldraht-
zäune verboten sind, so bleibt zu entscheiden, unter welchen Vor-
aussetzungen das Verbot gelten soll; und wenn es heißt, die Grund-
stücke seien vom Eigentümer in "polizeimäßigem" Zustande zu
erhalten, so ist nicht gesagt, zu was der Eigentümer verpflichtet

messen des Richters auszuschalten; dazu wäre wohl kein Gesetzgeber im-
stande. Es soll nur gesagt sein, daß das folgerichtigerweise seine Aufgabe
wäre und daß die unvollständige Erfüllung dieser Aufgabe durch den Gesetz-
geber notwendig zu Widersprüchen führt. Vgl. Die Lücken des Gesetzes
S. 93 ff.
1 Vgl. Puchta, Gewohnheitsrecht I 145: "Das Wesen der Staats-
gewalt besteht darin, daß dasjenige, was sie unter den verfassungsmäßigen
Voraussetzungen als allgemeinen Willen erkannt, auch als solcher gilt,
ohne daß hier erst eine materielle Untersuchung stattfindet, neben welcher
keine Staatsgewalt, da sie eben die höchste sein soll, bestehen könnte."

II. Teil. Die staatliche Verfassung.
ihr zustehende andere Aufgabe, das im Grundsatz gegebene Wert-
urteil auf den einzelnen Fall anzuwenden; mit anderen Worten:
es bleibt ihm keine bewertende Tätigkeit mehr, sondern nur noch
eine logische und historische Aufgabe: er hat die tatsächlichen
Voraussetzungen festzustellen, und sie logisch unter die Begriffe des
Rechtssatzes zu subsumieren. Diese logisch-historische Tätigkeit
nennt man häufig im eigentlichen Sinne die juristische, im Gegen-
satz zur wertenden Tätigkeit des Gesetzgebers1.

Damit aber der rechtsanwendenden Behörde nichts anderes
mehr bleibe, als das Recht anzuwenden, muß der Gesetzgeber
einesteils alle Rechtssätze aufstellen, die zur Vollständigkeit seiner
Rechtsordnung gehören, worüber bereits (S. 105 ff.) gesprochen
worden ist, und andernfalls die Rechtssätze, die er aufstellt, voll-
ständig formulieren, was hier noch kurz zu erörtern ist.

Ein Rechtssatz bestimmt, wie gewisse Personen unter gewissen
Voraussetzungen sich zu verhalten haben. Um vollständig zu sein,
muß der Rechtssatz also angeben, wer verpflichtet sein soll, unter
welchen Voraussetzungen und zu was er verpflichtet sein soll; er
muß das Subjekt (oder die Subjekte), die Voraussetzungen und
den Inhalt der Verpflichtung angeben.

Fehlt einer dieser Bestandteile, so ist der Rechtssatz unvoll-
ständig. Wenn ein Gesetz z. B. bestimmt, daß Stacheldrahtzäune
längs der öffentlichen Wege verboten sind, so bleibt unentschieden,
wer dafür haften soll, der Eigentümer des Grundstückes, der In-
haber oder der Veranstalter. Wenn es bloß heißt, daß Stacheldraht-
zäune verboten sind, so bleibt zu entscheiden, unter welchen Vor-
aussetzungen das Verbot gelten soll; und wenn es heißt, die Grund-
stücke seien vom Eigentümer in „polizeimäßigem“ Zustande zu
erhalten, so ist nicht gesagt, zu was der Eigentümer verpflichtet

messen des Richters auszuschalten; dazu wäre wohl kein Gesetzgeber im-
stande. Es soll nur gesagt sein, daß das folgerichtigerweise seine Aufgabe
wäre und daß die unvollständige Erfüllung dieser Aufgabe durch den Gesetz-
geber notwendig zu Widersprüchen führt. Vgl. Die Lücken des Gesetzes
S. 93 ff.
1 Vgl. Puchta, Gewohnheitsrecht I 145: „Das Wesen der Staats-
gewalt besteht darin, daß dasjenige, was sie unter den verfassungsmäßigen
Voraussetzungen als allgemeinen Willen erkannt, auch als solcher gilt,
ohne daß hier erst eine materielle Untersuchung stattfindet, neben welcher
keine Staatsgewalt, da sie eben die höchste sein soll, bestehen könnte.“
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[244/0259] II. Teil. Die staatliche Verfassung. ihr zustehende andere Aufgabe, das im Grundsatz gegebene Wert- urteil auf den einzelnen Fall anzuwenden; mit anderen Worten: es bleibt ihm keine bewertende Tätigkeit mehr, sondern nur noch eine logische und historische Aufgabe: er hat die tatsächlichen Voraussetzungen festzustellen, und sie logisch unter die Begriffe des Rechtssatzes zu subsumieren. Diese logisch-historische Tätigkeit nennt man häufig im eigentlichen Sinne die juristische, im Gegen- satz zur wertenden Tätigkeit des Gesetzgebers 1. Damit aber der rechtsanwendenden Behörde nichts anderes mehr bleibe, als das Recht anzuwenden, muß der Gesetzgeber einesteils alle Rechtssätze aufstellen, die zur Vollständigkeit seiner Rechtsordnung gehören, worüber bereits (S. 105 ff.) gesprochen worden ist, und andernfalls die Rechtssätze, die er aufstellt, voll- ständig formulieren, was hier noch kurz zu erörtern ist. Ein Rechtssatz bestimmt, wie gewisse Personen unter gewissen Voraussetzungen sich zu verhalten haben. Um vollständig zu sein, muß der Rechtssatz also angeben, wer verpflichtet sein soll, unter welchen Voraussetzungen und zu was er verpflichtet sein soll; er muß das Subjekt (oder die Subjekte), die Voraussetzungen und den Inhalt der Verpflichtung angeben. Fehlt einer dieser Bestandteile, so ist der Rechtssatz unvoll- ständig. Wenn ein Gesetz z. B. bestimmt, daß Stacheldrahtzäune längs der öffentlichen Wege verboten sind, so bleibt unentschieden, wer dafür haften soll, der Eigentümer des Grundstückes, der In- haber oder der Veranstalter. Wenn es bloß heißt, daß Stacheldraht- zäune verboten sind, so bleibt zu entscheiden, unter welchen Vor- aussetzungen das Verbot gelten soll; und wenn es heißt, die Grund- stücke seien vom Eigentümer in „polizeimäßigem“ Zustande zu erhalten, so ist nicht gesagt, zu was der Eigentümer verpflichtet 1 1 Vgl. Puchta, Gewohnheitsrecht I 145: „Das Wesen der Staats- gewalt besteht darin, daß dasjenige, was sie unter den verfassungsmäßigen Voraussetzungen als allgemeinen Willen erkannt, auch als solcher gilt, ohne daß hier erst eine materielle Untersuchung stattfindet, neben welcher keine Staatsgewalt, da sie eben die höchste sein soll, bestehen könnte.“ 1 messen des Richters auszuschalten; dazu wäre wohl kein Gesetzgeber im- stande. Es soll nur gesagt sein, daß das folgerichtigerweise seine Aufgabe wäre und daß die unvollständige Erfüllung dieser Aufgabe durch den Gesetz- geber notwendig zu Widersprüchen führt. Vgl. Die Lücken des Gesetzes S. 93 ff.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/259>, abgerufen am 22.11.2024.