materielles Recht vor, ohne Organisation, so wird man diese Verhaltungsregeln nicht als die geltenden bezeichnen können; denn es könnte jeder Einzelne mit gleichem Recht darüber ent- scheiden, ob diese oder andere Normen zu befolgen seien; es könnte jeden Tag eine andere solche Ordnung vorgelegt werden, ohne daß es möglich wäre, der einen von der anderen anders als durch ihren Inhalt den Vorzug zu geben; darüber aber, gerade entscheidet die Tatsache der Geltung.
Diese oberste Zuständigkeitsordnung bildet die Verfassung des Staates; sie ist unter allen Umständen unentbehrlich. Darum ist die Verfassung das Grundgesetz des Staates und darum wird man zur Begründung der Geltung der ganzen übrigen Rechts- ordnung eines Staates die Geltung der Verfassung dieses Landes nachweisen müssen1.
Die als Organe jeweilen berufenen Menschen (die Organi- sation im Sinne eines ausgeführten Organisationsplanes) ziehen also ihre Zuständigkeit, ihr Recht zu befehlen, aus der geltenden Rechtsordnung selbst, deren Organe sie sind; sie machen aber ihrerseits diese Geltung zur geltenden vermöge der Tatsache, daß sie sie durchsetzen. Ihre Macht muß sich in den Dienst der betreffenden Rechtsordnung stellen und in ihrem (der Rechts- ordnung) Namen, in den Formen ihres Organisationsplanes, be- fehlen, sonst betätigt sie nicht Recht, sondern Willkür. Wenn aber jenem Plan und jener Rechtsordnung niemand die Stärke seines Armes leiht, werden sie auch nicht geltendes Recht, sondern bleiben Wunsch und Gedanken2.
Es mag scheinen, als ob diese Bestimmung der Geltung sich im Kreise bewege: eine Rechtsordnung soll gelten, weil eine Organi- sation sie stützt; die Organisation ist aber selbst eine Einrichtung des Rechts und besteht nur kraft dieses Rechts, kraft dieser Rechtsordnung! Das Recht soll gelten, weil die Organisation es durchsetzt, die Organisation aber, als rechtliche Einrichtung, setzt Recht (d. h. selbstverständlich: geltendes Recht) voraus!
Der Einwand wäre begründet, wenn unsere Verbindung von
ce sont les regles que les tribunaux declarent etre en vigueur"; aber nicht nur die Gerichte!
1 Vgl. Pitamic, Intern. Zeitschrift I 52.
2Fries, Philosophische Rechtslehre (1803) 80.
Die Geltung des Rechts.
materielles Recht vor, ohne Organisation, so wird man diese Verhaltungsregeln nicht als die geltenden bezeichnen können; denn es könnte jeder Einzelne mit gleichem Recht darüber ent- scheiden, ob diese oder andere Normen zu befolgen seien; es könnte jeden Tag eine andere solche Ordnung vorgelegt werden, ohne daß es möglich wäre, der einen von der anderen anders als durch ihren Inhalt den Vorzug zu geben; darüber aber, gerade entscheidet die Tatsache der Geltung.
Diese oberste Zuständigkeitsordnung bildet die Verfassung des Staates; sie ist unter allen Umständen unentbehrlich. Darum ist die Verfassung das Grundgesetz des Staates und darum wird man zur Begründung der Geltung der ganzen übrigen Rechts- ordnung eines Staates die Geltung der Verfassung dieses Landes nachweisen müssen1.
Die als Organe jeweilen berufenen Menschen (die Organi- sation im Sinne eines ausgeführten Organisationsplanes) ziehen also ihre Zuständigkeit, ihr Recht zu befehlen, aus der geltenden Rechtsordnung selbst, deren Organe sie sind; sie machen aber ihrerseits diese Geltung zur geltenden vermöge der Tatsache, daß sie sie durchsetzen. Ihre Macht muß sich in den Dienst der betreffenden Rechtsordnung stellen und in ihrem (der Rechts- ordnung) Namen, in den Formen ihres Organisationsplanes, be- fehlen, sonst betätigt sie nicht Recht, sondern Willkür. Wenn aber jenem Plan und jener Rechtsordnung niemand die Stärke seines Armes leiht, werden sie auch nicht geltendes Recht, sondern bleiben Wunsch und Gedanken2.
Es mag scheinen, als ob diese Bestimmung der Geltung sich im Kreise bewege: eine Rechtsordnung soll gelten, weil eine Organi- sation sie stützt; die Organisation ist aber selbst eine Einrichtung des Rechts und besteht nur kraft dieses Rechts, kraft dieser Rechtsordnung! Das Recht soll gelten, weil die Organisation es durchsetzt, die Organisation aber, als rechtliche Einrichtung, setzt Recht (d. h. selbstverständlich: geltendes Recht) voraus!
Der Einwand wäre begründet, wenn unsere Verbindung von
ce sont les règles que les tribunaux déclarent être en vigueur“; aber nicht nur die Gerichte!
1 Vgl. Pitamic, Intern. Zeitschrift I 52.
2Fries, Philosophische Rechtslehre (1803) 80.
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Die Geltung des Rechts.
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Verhaltungsregeln nicht als die geltenden bezeichnen können;
denn es könnte jeder Einzelne mit gleichem Recht darüber ent-
scheiden, ob diese oder andere Normen zu befolgen seien; es
könnte jeden Tag eine andere solche Ordnung vorgelegt werden,
ohne daß es möglich wäre, der einen von der anderen anders als
durch ihren Inhalt den Vorzug zu geben; darüber aber, gerade
entscheidet die Tatsache der Geltung.
Diese oberste Zuständigkeitsordnung bildet die Verfassung
des Staates; sie ist unter allen Umständen unentbehrlich. Darum
ist die Verfassung das Grundgesetz des Staates und darum wird
man zur Begründung der Geltung der ganzen übrigen Rechts-
ordnung eines Staates die Geltung der Verfassung dieses Landes
nachweisen müssen 1.
Die als Organe jeweilen berufenen Menschen (die Organi-
sation im Sinne eines ausgeführten Organisationsplanes)
ziehen also ihre Zuständigkeit, ihr Recht zu befehlen, aus der
geltenden Rechtsordnung selbst, deren Organe sie sind; sie machen
aber ihrerseits diese Geltung zur geltenden vermöge der Tatsache,
daß sie sie durchsetzen. Ihre Macht muß sich in den Dienst
der betreffenden Rechtsordnung stellen und in ihrem (der Rechts-
ordnung) Namen, in den Formen ihres Organisationsplanes, be-
fehlen, sonst betätigt sie nicht Recht, sondern Willkür. Wenn
aber jenem Plan und jener Rechtsordnung niemand die Stärke
seines Armes leiht, werden sie auch nicht geltendes Recht, sondern
bleiben Wunsch und Gedanken 2.
Es mag scheinen, als ob diese Bestimmung der Geltung sich im
Kreise bewege: eine Rechtsordnung soll gelten, weil eine Organi-
sation sie stützt; die Organisation ist aber selbst eine Einrichtung
des Rechts und besteht nur kraft dieses Rechts, kraft dieser
Rechtsordnung! Das Recht soll gelten, weil die Organisation es
durchsetzt, die Organisation aber, als rechtliche Einrichtung,
setzt Recht (d. h. selbstverständlich: geltendes Recht) voraus!
Der Einwand wäre begründet, wenn unsere Verbindung von
2
1 Vgl. Pitamic, Intern. Zeitschrift I 52.
2 Fries, Philosophische Rechtslehre (1803) 80.
2 ce sont les règles que les tribunaux déclarent être en vigueur“; aber nicht
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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/194>, abgerufen am 16.07.2024.
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