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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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II. Teil. Die staatliche Verfassung.
auf ethischem Gebiete, sowenig wie auf naturwissenschaftlichem.
Aber im Gegensatz zum naturwissenschaftlichen Gebiet muß hier
die Erklärung nicht genetisch, sondern rationell sein. Erklärt wird
die Verbindlichkeit einer rechtlichen Ordnung, einer Verfassung,
doch nur, wenn der Grund dafür eingesehen werden kann, daß sie
befolgt werden soll (nicht die Ursache davon, daß sie befolgt wird).
Mit andern Worten: die tatsächlichen Begebenheiten, die historisch
zur Annahme und zum Inkrafttreten der Verfassung geführt haben,
geben niemals diejenige Erklärung, die hier erforderlich ist: die
Einsicht nämlich dafür, daß die Zuständigkeitsordnung Anspruch
auf Nachachtung erheben konnte und kann. Nicht sowohl weil
diese Begebenheiten nach Zeit und Ort verschieden sein können
und die Erklärung einheitlich sein muß, sondern weil die Tatsache,
daß vorher etwas geschehen ist, niemals die Erklärung dafür sein
kann, daß jetzt etwas geschehen soll. Es gilt überhaupt nicht,
einen zeitlichen Vorgang zu erklären, sondern ein ethisches Postulat;
nicht irgend ein tatsächliches Verhalten von Menschen, z. B. die
Tatsache, daß das Volk jetzt eine neue Verfassung befolgt, sondern
die Forderung, daß es sie befolgen soll. Die zeitliche Abfolge der
Ereignisse ist für den Psychologen interessant, der Naturwissen-
schaft unter dem einheitlichen Gesichtspunkt des Kausalgesetzes
treibt; er wird vielleicht durch die frühere Geistesverfassung der
Volksgenossen die spätere Tatsache erklären, daß sie sich gegen
die bisherige Verfassung aufgelehnt und für die neue Verfassung
in die Schanze geworfen haben. Aber erklärt ist damit nur dieses
tatsächliche Verhalten. Die Frage, die uns, die Ethiker, inter-
essiert, ist aber die, wie die neue Verfassung Anspruch auf
Verbindlichkeit erheben konnte (und noch kann); und diese Frage
wird durch die psychologische Deutung jener historischen Vor-
gänge in keiner Weise beantwortet; sie wird, wenn überhaupt,
nur durch die Darlegung der Vernünftigkeit, der sachlichen Richtig-
keit des Inhaltes der neuen Verfassung unter den gegebenen Um-
ständen beantwortet. Was sich so erklärt, ist als verbindliche
Regel begründet; was sich so nicht begreift, erklärt sich nur
"historisch", eben aus geschichtlichen, zufälligen Umständen, d. h.
eben (als verbindliche Norm) gar nicht.

Und selbstverständlich gilt das Gesagte für jede "geschichtliche"
Erklärung des Rechts: jedes Recht, das gilt oder gegolten hat,

II. Teil. Die staatliche Verfassung.
auf ethischem Gebiete, sowenig wie auf naturwissenschaftlichem.
Aber im Gegensatz zum naturwissenschaftlichen Gebiet muß hier
die Erklärung nicht genetisch, sondern rationell sein. Erklärt wird
die Verbindlichkeit einer rechtlichen Ordnung, einer Verfassung,
doch nur, wenn der Grund dafür eingesehen werden kann, daß sie
befolgt werden soll (nicht die Ursache davon, daß sie befolgt wird).
Mit andern Worten: die tatsächlichen Begebenheiten, die historisch
zur Annahme und zum Inkrafttreten der Verfassung geführt haben,
geben niemals diejenige Erklärung, die hier erforderlich ist: die
Einsicht nämlich dafür, daß die Zuständigkeitsordnung Anspruch
auf Nachachtung erheben konnte und kann. Nicht sowohl weil
diese Begebenheiten nach Zeit und Ort verschieden sein können
und die Erklärung einheitlich sein muß, sondern weil die Tatsache,
daß vorher etwas geschehen ist, niemals die Erklärung dafür sein
kann, daß jetzt etwas geschehen soll. Es gilt überhaupt nicht,
einen zeitlichen Vorgang zu erklären, sondern ein ethisches Postulat;
nicht irgend ein tatsächliches Verhalten von Menschen, z. B. die
Tatsache, daß das Volk jetzt eine neue Verfassung befolgt, sondern
die Forderung, daß es sie befolgen soll. Die zeitliche Abfolge der
Ereignisse ist für den Psychologen interessant, der Naturwissen-
schaft unter dem einheitlichen Gesichtspunkt des Kausalgesetzes
treibt; er wird vielleicht durch die frühere Geistesverfassung der
Volksgenossen die spätere Tatsache erklären, daß sie sich gegen
die bisherige Verfassung aufgelehnt und für die neue Verfassung
in die Schanze geworfen haben. Aber erklärt ist damit nur dieses
tatsächliche Verhalten. Die Frage, die uns, die Ethiker, inter-
essiert, ist aber die, wie die neue Verfassung Anspruch auf
Verbindlichkeit erheben konnte (und noch kann); und diese Frage
wird durch die psychologische Deutung jener historischen Vor-
gänge in keiner Weise beantwortet; sie wird, wenn überhaupt,
nur durch die Darlegung der Vernünftigkeit, der sachlichen Richtig-
keit des Inhaltes der neuen Verfassung unter den gegebenen Um-
ständen beantwortet. Was sich so erklärt, ist als verbindliche
Regel begründet; was sich so nicht begreift, erklärt sich nur
„historisch“, eben aus geschichtlichen, zufälligen Umständen, d. h.
eben (als verbindliche Norm) gar nicht.

Und selbstverständlich gilt das Gesagte für jede „geschichtliche“
Erklärung des Rechts: jedes Recht, das gilt oder gegolten hat,

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[146/0161] II. Teil. Die staatliche Verfassung. auf ethischem Gebiete, sowenig wie auf naturwissenschaftlichem. Aber im Gegensatz zum naturwissenschaftlichen Gebiet muß hier die Erklärung nicht genetisch, sondern rationell sein. Erklärt wird die Verbindlichkeit einer rechtlichen Ordnung, einer Verfassung, doch nur, wenn der Grund dafür eingesehen werden kann, daß sie befolgt werden soll (nicht die Ursache davon, daß sie befolgt wird). Mit andern Worten: die tatsächlichen Begebenheiten, die historisch zur Annahme und zum Inkrafttreten der Verfassung geführt haben, geben niemals diejenige Erklärung, die hier erforderlich ist: die Einsicht nämlich dafür, daß die Zuständigkeitsordnung Anspruch auf Nachachtung erheben konnte und kann. Nicht sowohl weil diese Begebenheiten nach Zeit und Ort verschieden sein können und die Erklärung einheitlich sein muß, sondern weil die Tatsache, daß vorher etwas geschehen ist, niemals die Erklärung dafür sein kann, daß jetzt etwas geschehen soll. Es gilt überhaupt nicht, einen zeitlichen Vorgang zu erklären, sondern ein ethisches Postulat; nicht irgend ein tatsächliches Verhalten von Menschen, z. B. die Tatsache, daß das Volk jetzt eine neue Verfassung befolgt, sondern die Forderung, daß es sie befolgen soll. Die zeitliche Abfolge der Ereignisse ist für den Psychologen interessant, der Naturwissen- schaft unter dem einheitlichen Gesichtspunkt des Kausalgesetzes treibt; er wird vielleicht durch die frühere Geistesverfassung der Volksgenossen die spätere Tatsache erklären, daß sie sich gegen die bisherige Verfassung aufgelehnt und für die neue Verfassung in die Schanze geworfen haben. Aber erklärt ist damit nur dieses tatsächliche Verhalten. Die Frage, die uns, die Ethiker, inter- essiert, ist aber die, wie die neue Verfassung Anspruch auf Verbindlichkeit erheben konnte (und noch kann); und diese Frage wird durch die psychologische Deutung jener historischen Vor- gänge in keiner Weise beantwortet; sie wird, wenn überhaupt, nur durch die Darlegung der Vernünftigkeit, der sachlichen Richtig- keit des Inhaltes der neuen Verfassung unter den gegebenen Um- ständen beantwortet. Was sich so erklärt, ist als verbindliche Regel begründet; was sich so nicht begreift, erklärt sich nur „historisch“, eben aus geschichtlichen, zufälligen Umständen, d. h. eben (als verbindliche Norm) gar nicht. Und selbstverständlich gilt das Gesagte für jede „geschichtliche“ Erklärung des Rechts: jedes Recht, das gilt oder gegolten hat,

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/161>, abgerufen am 05.05.2024.