Rechtsordnung nur solange verbindlich ist, als jeder zustimmt; die Theorie des Anarchismus; oder der Vertrag wird nur "gedacht", in dem Sinne nämlich, daß verbindlich nur derjenige Staat ist, den man sich als von Vertragsparteien frei gewollt denken könnte, und zwar von vernünftigen Vertragsparteien im freien Gebrauch ihrer Vernunft, wie Kant es meinte; dann liegt die Rechtfertigung des Staates in der Vernunft, und aus ihr hat er seine Verbindlich- keit abzuleiten, nicht aus einem Vertrag. Aber wie er sie aus der Vernunft ableiten könne, ist mit jener Redewendung noch nicht gesagt.
Heute scheint man mitunter den Vertrag eher umgekehrt für die Entstehung des Staates oder gewisser Staaten verwenden zu wollen, als für die grundsätzliche Erklärung seiner Verbindlich- keit. Man meint etwa die Entstehung eines Bundesstaates auf die "Vereinbarung" oder den "Gesamtakt" zurückführen zu können, in der Meinung, damit nur die Entstehung dieser Staaten rechtlich konstruiert, nicht die Verbindlichkeit des Staates über- haupt begründet zu haben.
Allein diese beiden Fragen lassen sich nicht trennen; oder besser: die einzige wirkliche Frage ist die rationelle nach der Verbindlichkeit des (als bestehend gedachten) Staates.
Die Frage, wie ein Staat entstanden sei, kann nur beant- wortet werden, wenn man weiß, wie Staaten überhaupt entstehen, und die Frage, wie der Staat oder seine Verfassung entstehe, kann nur heißen, wie sie verbindlich werden. Was sie aber ver- bindlich macht, ist nichts anderes als was sie verbindlich erhält, oder besser: der Grund der Verbindlichkeit überhaupt. Es ist also die Frage nach dem Grund, aus welchem die (geltende) Ver- fassung verbindlich ist. Wenn sich die Entstehung des Staates, der Verfassung, durch ein Rechtsgeschäft erklären ließe, müßte auch ihre Verbindlichkeit damit (als ein Rechtsverhältnis) erklärt sein; denn die "Entstehung" ist nur der Anfang der Verbindlich- keit, der Geltung.
Es gibt also nur eine Frage: wie erklärt sich die Verbindlich- keit der (als geltend gedachten) Verfassung?; denn nur geltende sind ja verbindlich. Die Verbindlichkeit aller Verfassungen wird aber stets in einer und derselben Weise erklärt werden müssen; denn verschiedene Erklärungen würden nicht erklären, hier,
Burckhardt, Organisation. 10
Der Begriff der staatlichen Organisation.
Rechtsordnung nur solange verbindlich ist, als jeder zustimmt; die Theorie des Anarchismus; oder der Vertrag wird nur „gedacht“, in dem Sinne nämlich, daß verbindlich nur derjenige Staat ist, den man sich als von Vertragsparteien frei gewollt denken könnte, und zwar von vernünftigen Vertragsparteien im freien Gebrauch ihrer Vernunft, wie Kant es meinte; dann liegt die Rechtfertigung des Staates in der Vernunft, und aus ihr hat er seine Verbindlich- keit abzuleiten, nicht aus einem Vertrag. Aber wie er sie aus der Vernunft ableiten könne, ist mit jener Redewendung noch nicht gesagt.
Heute scheint man mitunter den Vertrag eher umgekehrt für die Entstehung des Staates oder gewisser Staaten verwenden zu wollen, als für die grundsätzliche Erklärung seiner Verbindlich- keit. Man meint etwa die Entstehung eines Bundesstaates auf die „Vereinbarung“ oder den „Gesamtakt“ zurückführen zu können, in der Meinung, damit nur die Entstehung dieser Staaten rechtlich konstruiert, nicht die Verbindlichkeit des Staates über- haupt begründet zu haben.
Allein diese beiden Fragen lassen sich nicht trennen; oder besser: die einzige wirkliche Frage ist die rationelle nach der Verbindlichkeit des (als bestehend gedachten) Staates.
Die Frage, wie ein Staat entstanden sei, kann nur beant- wortet werden, wenn man weiß, wie Staaten überhaupt entstehen, und die Frage, wie der Staat oder seine Verfassung entstehe, kann nur heißen, wie sie verbindlich werden. Was sie aber ver- bindlich macht, ist nichts anderes als was sie verbindlich erhält, oder besser: der Grund der Verbindlichkeit überhaupt. Es ist also die Frage nach dem Grund, aus welchem die (geltende) Ver- fassung verbindlich ist. Wenn sich die Entstehung des Staates, der Verfassung, durch ein Rechtsgeschäft erklären ließe, müßte auch ihre Verbindlichkeit damit (als ein Rechtsverhältnis) erklärt sein; denn die „Entstehung“ ist nur der Anfang der Verbindlich- keit, der Geltung.
Es gibt also nur eine Frage: wie erklärt sich die Verbindlich- keit der (als geltend gedachten) Verfassung?; denn nur geltende sind ja verbindlich. Die Verbindlichkeit aller Verfassungen wird aber stets in einer und derselben Weise erklärt werden müssen; denn verschiedene Erklärungen würden nicht erklären, hier,
Burckhardt, Organisation. 10
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Der Begriff der staatlichen Organisation.
Rechtsordnung nur solange verbindlich ist, als jeder zustimmt;
die Theorie des Anarchismus; oder der Vertrag wird nur „gedacht“,
in dem Sinne nämlich, daß verbindlich nur derjenige Staat ist, den
man sich als von Vertragsparteien frei gewollt denken könnte,
und zwar von vernünftigen Vertragsparteien im freien Gebrauch
ihrer Vernunft, wie Kant es meinte; dann liegt die Rechtfertigung
des Staates in der Vernunft, und aus ihr hat er seine Verbindlich-
keit abzuleiten, nicht aus einem Vertrag. Aber wie er sie aus
der Vernunft ableiten könne, ist mit jener Redewendung noch
nicht gesagt.
Heute scheint man mitunter den Vertrag eher umgekehrt für
die Entstehung des Staates oder gewisser Staaten verwenden
zu wollen, als für die grundsätzliche Erklärung seiner Verbindlich-
keit. Man meint etwa die Entstehung eines Bundesstaates auf
die „Vereinbarung“ oder den „Gesamtakt“ zurückführen zu
können, in der Meinung, damit nur die Entstehung dieser Staaten
rechtlich konstruiert, nicht die Verbindlichkeit des Staates über-
haupt begründet zu haben.
Allein diese beiden Fragen lassen sich nicht trennen; oder
besser: die einzige wirkliche Frage ist die rationelle nach der
Verbindlichkeit des (als bestehend gedachten) Staates.
Die Frage, wie ein Staat entstanden sei, kann nur beant-
wortet werden, wenn man weiß, wie Staaten überhaupt entstehen,
und die Frage, wie der Staat oder seine Verfassung entstehe,
kann nur heißen, wie sie verbindlich werden. Was sie aber ver-
bindlich macht, ist nichts anderes als was sie verbindlich erhält,
oder besser: der Grund der Verbindlichkeit überhaupt. Es ist
also die Frage nach dem Grund, aus welchem die (geltende) Ver-
fassung verbindlich ist. Wenn sich die Entstehung des Staates,
der Verfassung, durch ein Rechtsgeschäft erklären ließe, müßte
auch ihre Verbindlichkeit damit (als ein Rechtsverhältnis) erklärt
sein; denn die „Entstehung“ ist nur der Anfang der Verbindlich-
keit, der Geltung.
Es gibt also nur eine Frage: wie erklärt sich die Verbindlich-
keit der (als geltend gedachten) Verfassung?; denn nur geltende
sind ja verbindlich. Die Verbindlichkeit aller Verfassungen wird
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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/160>, abgerufen am 16.07.2024.
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