ekstatischem Ausdruck, bewegen sich frei vor einer Trümmernische, über welcher auf Wolken die Madonna erscheint; zwei Engel eilen dem Kind Kränze zu bringen, welche es in seligem Muthwillen her- unterwirft; weiter oben sieht man noch den Anfang einer Strahlen- glorie (deren halbrunder Abschluss, mit der Taube des heil. Geistes, noch vorhanden, aber auf die Rückseite umgebogen sein soll). -- Endlich das wichtigste und schönste aller Präsentationsbilder, durch welches T. die Auffassung solcher Gegenstände für die ganze Folge- zeit neu feststellte, nach malerischen Gesetzen der Gruppen- und Farbenfolge, in freier, luftiger Räumlichkeit. Es ist das Gemälde in den Frari, auf einem der ersten Altäre links: mehrere Heiligea empfehlen der auf einem Altar thronenden Madonna die unten knieen- den Mitglieder der Familie Pesaro. Ein Werk von ganz unergründ- licher Schönheit, das der Beschauer vielleicht mit mir unter allen Gemälden T.'s am meisten persönlich lieb gewinnen wird.
Einzelne Madonnen mit dem Kinde, im Freien oder vor einem grünen Vorhang u. dgl., kommen hin und wieder vor. Eine kleine, frühe und sehr schöne im Pal. Sciarra zu Rom. Über eine reife Müt-b terlichkeit, allerdings der liebenswürdigsten Art, geht ihr Ausdruck nicht hinaus.
Biblische u. a. heilige Scenen sind um so viel harmoni- scher, je einfacher die dargestellten Beziehungen sind. In der Aca-c demie: die Heimsuchung, das frühste bekannte Gemälde des Meisters. -- In S. Marcilian, 1. Alt. l., der junge Tobias mit dem Engel, eind ganz naives Bild kindlicher Beschränktheit unter himmlischem Schutze. -- In S. Salvatore, letzter Alt. d. r. Seitenschiffes: eine ganz spätee Verkündigung. -- Von den reichern Compositionen nimmt die be- rühmte Grablegung (im Pal. Manfrin) wohl die erste Stelle ein.f Man soll nicht mit dem Vergleichen anfangen; allein hier drängt sich die Parallele mit der borghesischen Grablegung Rafaels unabweislich auf. An dramatischem Reichthum, an Majestät der Linien kann sich das Werk Tizians mit jenem nicht messen; die Stellungen der we- nigsten Figuren werden auch nur genügend erklärt. Aber die Gruppe ist nicht nur nach Farben unendlich schön gebaut, sondern auch in dem Ausdruck des geistigen Schmerzes allem Höchsten gleichzustellen. Kein Zug des Pathos liegt ausserhalb des Ereignisses, keiner über-
Tizian. Einzelcharaktere. Kirchenbilder.
ekstatischem Ausdruck, bewegen sich frei vor einer Trümmernische, über welcher auf Wolken die Madonna erscheint; zwei Engel eilen dem Kind Kränze zu bringen, welche es in seligem Muthwillen her- unterwirft; weiter oben sieht man noch den Anfang einer Strahlen- glorie (deren halbrunder Abschluss, mit der Taube des heil. Geistes, noch vorhanden, aber auf die Rückseite umgebogen sein soll). — Endlich das wichtigste und schönste aller Präsentationsbilder, durch welches T. die Auffassung solcher Gegenstände für die ganze Folge- zeit neu feststellte, nach malerischen Gesetzen der Gruppen- und Farbenfolge, in freier, luftiger Räumlichkeit. Es ist das Gemälde in den Frari, auf einem der ersten Altäre links: mehrere Heiligea empfehlen der auf einem Altar thronenden Madonna die unten knieen- den Mitglieder der Familie Pesaro. Ein Werk von ganz unergründ- licher Schönheit, das der Beschauer vielleicht mit mir unter allen Gemälden T.’s am meisten persönlich lieb gewinnen wird.
Einzelne Madonnen mit dem Kinde, im Freien oder vor einem grünen Vorhang u. dgl., kommen hin und wieder vor. Eine kleine, frühe und sehr schöne im Pal. Sciarra zu Rom. Über eine reife Müt-b terlichkeit, allerdings der liebenswürdigsten Art, geht ihr Ausdruck nicht hinaus.
Biblische u. a. heilige Scenen sind um so viel harmoni- scher, je einfacher die dargestellten Beziehungen sind. In der Aca-c demie: die Heimsuchung, das frühste bekannte Gemälde des Meisters. — In S. Marcilian, 1. Alt. l., der junge Tobias mit dem Engel, eind ganz naives Bild kindlicher Beschränktheit unter himmlischem Schutze. — In S. Salvatore, letzter Alt. d. r. Seitenschiffes: eine ganz spätee Verkündigung. — Von den reichern Compositionen nimmt die be- rühmte Grablegung (im Pal. Manfrin) wohl die erste Stelle ein.f Man soll nicht mit dem Vergleichen anfangen; allein hier drängt sich die Parallele mit der borghesischen Grablegung Rafaels unabweislich auf. An dramatischem Reichthum, an Majestät der Linien kann sich das Werk Tizians mit jenem nicht messen; die Stellungen der we- nigsten Figuren werden auch nur genügend erklärt. Aber die Gruppe ist nicht nur nach Farben unendlich schön gebaut, sondern auch in dem Ausdruck des geistigen Schmerzes allem Höchsten gleichzustellen. Kein Zug des Pathos liegt ausserhalb des Ereignisses, keiner über-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0993"n="971"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Tizian. Einzelcharaktere. Kirchenbilder.</hi></fw><lb/>
ekstatischem Ausdruck, bewegen sich frei vor einer Trümmernische,<lb/>
über welcher auf Wolken die Madonna erscheint; zwei Engel eilen<lb/>
dem Kind Kränze zu bringen, welche es in seligem Muthwillen her-<lb/>
unterwirft; weiter oben sieht man noch den Anfang einer Strahlen-<lb/>
glorie (deren halbrunder Abschluss, mit der Taube des heil. Geistes,<lb/>
noch vorhanden, aber auf die Rückseite umgebogen sein soll). —<lb/>
Endlich das wichtigste und schönste aller Präsentationsbilder, durch<lb/>
welches T. die Auffassung solcher Gegenstände für die ganze Folge-<lb/>
zeit neu feststellte, nach malerischen Gesetzen der Gruppen- und<lb/>
Farbenfolge, in freier, luftiger Räumlichkeit. Es ist das Gemälde in<lb/>
den <hirendition="#g">Frari</hi>, auf einem der ersten Altäre links: mehrere Heilige<noteplace="right">a</note><lb/>
empfehlen der auf einem Altar thronenden Madonna die unten knieen-<lb/>
den Mitglieder der Familie Pesaro. Ein Werk von ganz unergründ-<lb/>
licher Schönheit, das der Beschauer vielleicht mit mir unter allen<lb/>
Gemälden T.’s am meisten persönlich lieb gewinnen wird.</p><lb/><p>Einzelne <hirendition="#g">Madonnen</hi> mit dem Kinde, im Freien oder vor einem<lb/>
grünen Vorhang u. dgl., kommen hin und wieder vor. Eine kleine,<lb/>
frühe und sehr schöne im Pal. Sciarra zu Rom. Über eine reife Müt-<noteplace="right">b</note><lb/>
terlichkeit, allerdings der liebenswürdigsten Art, geht ihr Ausdruck<lb/>
nicht hinaus.</p><lb/><p><hirendition="#g">Biblische u. a. heilige Scenen</hi> sind um so viel harmoni-<lb/>
scher, je einfacher die dargestellten Beziehungen sind. In der Aca-<noteplace="right">c</note><lb/>
demie: die Heimsuchung, das frühste bekannte Gemälde des Meisters.<lb/>— In S. Marcilian, 1. Alt. l., der junge Tobias mit dem Engel, ein<noteplace="right">d</note><lb/>
ganz naives Bild kindlicher Beschränktheit unter himmlischem Schutze.<lb/>— In S. Salvatore, letzter Alt. d. r. Seitenschiffes: eine ganz späte<noteplace="right">e</note><lb/>
Verkündigung. — Von den reichern Compositionen nimmt die be-<lb/>
rühmte <hirendition="#g">Grablegung</hi> (im Pal. Manfrin) wohl die erste Stelle ein.<noteplace="right">f</note><lb/>
Man soll nicht mit dem Vergleichen anfangen; allein hier drängt sich<lb/>
die Parallele mit der borghesischen Grablegung Rafaels unabweislich<lb/>
auf. An dramatischem Reichthum, an Majestät der Linien kann sich<lb/>
das Werk Tizians mit jenem nicht messen; die Stellungen der we-<lb/>
nigsten Figuren werden auch nur genügend erklärt. Aber die Gruppe<lb/>
ist nicht nur nach Farben unendlich schön gebaut, sondern auch in<lb/>
dem Ausdruck des geistigen Schmerzes allem Höchsten gleichzustellen.<lb/>
Kein Zug des Pathos liegt ausserhalb des Ereignisses, keiner über-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[971/0993]
Tizian. Einzelcharaktere. Kirchenbilder.
ekstatischem Ausdruck, bewegen sich frei vor einer Trümmernische,
über welcher auf Wolken die Madonna erscheint; zwei Engel eilen
dem Kind Kränze zu bringen, welche es in seligem Muthwillen her-
unterwirft; weiter oben sieht man noch den Anfang einer Strahlen-
glorie (deren halbrunder Abschluss, mit der Taube des heil. Geistes,
noch vorhanden, aber auf die Rückseite umgebogen sein soll). —
Endlich das wichtigste und schönste aller Präsentationsbilder, durch
welches T. die Auffassung solcher Gegenstände für die ganze Folge-
zeit neu feststellte, nach malerischen Gesetzen der Gruppen- und
Farbenfolge, in freier, luftiger Räumlichkeit. Es ist das Gemälde in
den Frari, auf einem der ersten Altäre links: mehrere Heilige
empfehlen der auf einem Altar thronenden Madonna die unten knieen-
den Mitglieder der Familie Pesaro. Ein Werk von ganz unergründ-
licher Schönheit, das der Beschauer vielleicht mit mir unter allen
Gemälden T.’s am meisten persönlich lieb gewinnen wird.
a
Einzelne Madonnen mit dem Kinde, im Freien oder vor einem
grünen Vorhang u. dgl., kommen hin und wieder vor. Eine kleine,
frühe und sehr schöne im Pal. Sciarra zu Rom. Über eine reife Müt-
terlichkeit, allerdings der liebenswürdigsten Art, geht ihr Ausdruck
nicht hinaus.
b
Biblische u. a. heilige Scenen sind um so viel harmoni-
scher, je einfacher die dargestellten Beziehungen sind. In der Aca-
demie: die Heimsuchung, das frühste bekannte Gemälde des Meisters.
— In S. Marcilian, 1. Alt. l., der junge Tobias mit dem Engel, ein
ganz naives Bild kindlicher Beschränktheit unter himmlischem Schutze.
— In S. Salvatore, letzter Alt. d. r. Seitenschiffes: eine ganz späte
Verkündigung. — Von den reichern Compositionen nimmt die be-
rühmte Grablegung (im Pal. Manfrin) wohl die erste Stelle ein.
Man soll nicht mit dem Vergleichen anfangen; allein hier drängt sich
die Parallele mit der borghesischen Grablegung Rafaels unabweislich
auf. An dramatischem Reichthum, an Majestät der Linien kann sich
das Werk Tizians mit jenem nicht messen; die Stellungen der we-
nigsten Figuren werden auch nur genügend erklärt. Aber die Gruppe
ist nicht nur nach Farben unendlich schön gebaut, sondern auch in
dem Ausdruck des geistigen Schmerzes allem Höchsten gleichzustellen.
Kein Zug des Pathos liegt ausserhalb des Ereignisses, keiner über-
c
d
e
f
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 971. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/993>, abgerufen am 18.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.