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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Johannes d. T. Vision Ezechiels.
des zwölfjährigen Lehrers im Tempel 1); wohl aber die eines begei-
sterten Knaben Johannes (das Original vielleicht das Bild in Darm-
stadt; ein anderes neben vielen Copien als wenigstens zum Theil
eigenhändig anerkanntes Exemplar in der Tribuna der Uffizien zu Flo-a
renz; eine alte Schulcopie in der Pinacothek zu Bologna). Der mäch-b
tig strenge Ausdruck des herrlichen Kopfes und der äusserst wirk-
same Gegensatz zwischen dem aufrechten Sitzen und der diagonalen
Bewegung lässt über die Mischung der Formen hinwegsehen, welche
zum Theil knabenhaft, zum Theil mehr ausgebildet männlich sind. Im
Ganzen wird man Rafael (auch gegen Tizian) darob Recht geben, dass
er den Täufer als Einzelfigur ganz jung bildete; diese Schönheit ist
das allein richtige Gegengewicht gegen die Busspredigt, wenn nicht
durch Zuthat anderer Figuren eine ganz neue Rechnung eintritt. -- Das
Rohrkreuz, auf welches Johannes hinweist, bietet in seiner Biegung
die einzig harmonische Linie dar.


Endlich noch drei Werke der römischen Zeit, welche jedes in
seiner Weise für die Darstellung des Übernatürlichen unvergleichlich
gross sind.

Das eine ist symbolischer Art: die Vision Ezechiels, im Pal.c
Pitti; klein, höchst fleissig obwohl nicht miniaturartig ausgeführt. --
Das Mittelalter hatte die aus dem alten Testament und der Apoka-
lypse entnommenen Symbole dem Wortlaut nach symmetrisch gebil-
det, imposant durch den Ernst der Überzeugung, und auch für unser
Gefühl überwältigend durch die Ideenassociation, die sich an derar-
tige Äusserungen der alten Kirche knüpft. -- Rafael übernahm den

1) Ein misslicher Gegenstand, insofern dessen Inhalt nie rein in die Darstellung
aufgehen kann; man erfährt wohl aus dem Evangelium aber nie aus dem
Bilde, wesshalb die Schriftgelehrten so betroffen sind; die Argumente, welche
diese Wirkung hervorbrachten, können eben nicht gemalt werden. -- Wie
sich Lionardo half, s. S. 863, f. -- Wir wüssten sehr viel, wenn wir ermitteln
könnten, welche Gegenstände Rafael trotz der Wünsche Anderer nicht ge-
malt hat und aus welchen Gründen er sie zurückwies. Es giebt von ihm kein
Marterbild; sein weitester Grenzstein nach dieser Seite ist die Kreuztragung
(lo spasimo di Sicilia), abgesehen von dem frühen Cruxifixus, S. 892, *.

Johannes d. T. Vision Ezechiels.
des zwölfjährigen Lehrers im Tempel 1); wohl aber die eines begei-
sterten Knaben Johannes (das Original vielleicht das Bild in Darm-
stadt; ein anderes neben vielen Copien als wenigstens zum Theil
eigenhändig anerkanntes Exemplar in der Tribuna der Uffizien zu Flo-a
renz; eine alte Schulcopie in der Pinacothek zu Bologna). Der mäch-b
tig strenge Ausdruck des herrlichen Kopfes und der äusserst wirk-
same Gegensatz zwischen dem aufrechten Sitzen und der diagonalen
Bewegung lässt über die Mischung der Formen hinwegsehen, welche
zum Theil knabenhaft, zum Theil mehr ausgebildet männlich sind. Im
Ganzen wird man Rafael (auch gegen Tizian) darob Recht geben, dass
er den Täufer als Einzelfigur ganz jung bildete; diese Schönheit ist
das allein richtige Gegengewicht gegen die Busspredigt, wenn nicht
durch Zuthat anderer Figuren eine ganz neue Rechnung eintritt. — Das
Rohrkreuz, auf welches Johannes hinweist, bietet in seiner Biegung
die einzig harmonische Linie dar.


Endlich noch drei Werke der römischen Zeit, welche jedes in
seiner Weise für die Darstellung des Übernatürlichen unvergleichlich
gross sind.

Das eine ist symbolischer Art: die Vision Ezechiels, im Pal.c
Pitti; klein, höchst fleissig obwohl nicht miniaturartig ausgeführt. —
Das Mittelalter hatte die aus dem alten Testament und der Apoka-
lypse entnommenen Symbole dem Wortlaut nach symmetrisch gebil-
det, imposant durch den Ernst der Überzeugung, und auch für unser
Gefühl überwältigend durch die Ideenassociation, die sich an derar-
tige Äusserungen der alten Kirche knüpft. — Rafael übernahm den

1) Ein misslicher Gegenstand, insofern dessen Inhalt nie rein in die Darstellung
aufgehen kann; man erfährt wohl aus dem Evangelium aber nie aus dem
Bilde, wesshalb die Schriftgelehrten so betroffen sind; die Argumente, welche
diese Wirkung hervorbrachten, können eben nicht gemalt werden. — Wie
sich Lionardo half, s. S. 863, f. — Wir wüssten sehr viel, wenn wir ermitteln
könnten, welche Gegenstände Rafael trotz der Wünsche Anderer nicht ge-
malt hat und aus welchen Gründen er sie zurückwies. Es giebt von ihm kein
Marterbild; sein weitester Grenzstein nach dieser Seite ist die Kreuztragung
(lo spasimo di Sicilia), abgesehen von dem frühen Cruxifixus, S. 892, *.
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[903/0925] Johannes d. T. Vision Ezechiels. des zwölfjährigen Lehrers im Tempel 1); wohl aber die eines begei- sterten Knaben Johannes (das Original vielleicht das Bild in Darm- stadt; ein anderes neben vielen Copien als wenigstens zum Theil eigenhändig anerkanntes Exemplar in der Tribuna der Uffizien zu Flo- renz; eine alte Schulcopie in der Pinacothek zu Bologna). Der mäch- tig strenge Ausdruck des herrlichen Kopfes und der äusserst wirk- same Gegensatz zwischen dem aufrechten Sitzen und der diagonalen Bewegung lässt über die Mischung der Formen hinwegsehen, welche zum Theil knabenhaft, zum Theil mehr ausgebildet männlich sind. Im Ganzen wird man Rafael (auch gegen Tizian) darob Recht geben, dass er den Täufer als Einzelfigur ganz jung bildete; diese Schönheit ist das allein richtige Gegengewicht gegen die Busspredigt, wenn nicht durch Zuthat anderer Figuren eine ganz neue Rechnung eintritt. — Das Rohrkreuz, auf welches Johannes hinweist, bietet in seiner Biegung die einzig harmonische Linie dar. a b Endlich noch drei Werke der römischen Zeit, welche jedes in seiner Weise für die Darstellung des Übernatürlichen unvergleichlich gross sind. Das eine ist symbolischer Art: die Vision Ezechiels, im Pal. Pitti; klein, höchst fleissig obwohl nicht miniaturartig ausgeführt. — Das Mittelalter hatte die aus dem alten Testament und der Apoka- lypse entnommenen Symbole dem Wortlaut nach symmetrisch gebil- det, imposant durch den Ernst der Überzeugung, und auch für unser Gefühl überwältigend durch die Ideenassociation, die sich an derar- tige Äusserungen der alten Kirche knüpft. — Rafael übernahm den c 1) Ein misslicher Gegenstand, insofern dessen Inhalt nie rein in die Darstellung aufgehen kann; man erfährt wohl aus dem Evangelium aber nie aus dem Bilde, wesshalb die Schriftgelehrten so betroffen sind; die Argumente, welche diese Wirkung hervorbrachten, können eben nicht gemalt werden. — Wie sich Lionardo half, s. S. 863, f. — Wir wüssten sehr viel, wenn wir ermitteln könnten, welche Gegenstände Rafael trotz der Wünsche Anderer nicht ge- malt hat und aus welchen Gründen er sie zurückwies. Es giebt von ihm kein Marterbild; sein weitester Grenzstein nach dieser Seite ist die Kreuztragung (lo spasimo di Sicilia), abgesehen von dem frühen Cruxifixus, S. 892, *.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 903. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/925>, abgerufen am 19.05.2024.