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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Malerei des XVI. Jahrhunderts. Fra Bartolommeo.
sie nicht wussten, dass Alles was bei ihm so aussah, durch sein
innerstes persönliches Wesen bedingt gewesen war.


Die florentinische Malerei blüht mit Lionardo und Michelangelo
noch nicht vollständig aus. Die unermesslichen Lebenstriebe, welche
das XV. Jahrh. in dieser Weihestätte der Kunst geweckt und aus-
gebildet hatte, erreichen noch in zwei andern grossen Meistern eine
Vollendung, welche ganz eigener Art und von jenen beiden wesentlich
unabhängig ist.

Der eine ist Fra Bartolommeo (eigentlich Baccio della Porta,
1469--1517), ursprünglich Schüler des Cosimo Rosselli; seine Be-
freiung aus den Banden des XV. Jahrhunderts verdankte er Lionardo;
sein positiver Inhalt ist ihm eigen 1). Er zuerst hat das hohe Gefühl
vollständig zu empfinden und wieder zu erwecken vermocht, welches
aus dem Zusammenklang grossartiger Charaktere, reiner imposanter
Gewandungen und einer nicht bloss symmetrischen, sondern architek-
tonisch aufgebauten Gruppirung entsteht. Seine persönliche Empfin-
dung hat nicht immer genügt, um dieses gewaltige Gerüste völlig zu
beleben, und hierin steht er dem Lionardo nach, welcher immer Schön-
heit, Leben und Charakter an Einem Stücke giebt. Auch würde er
für bewegte Compositionen überhaupt nicht ausgereicht haben. Allein
was das Altarwerk im engern Sinn verlangt, hat Keiner mit vollkomm-
nerer Hoheit dargestellt.

Die Freiheit und Grösse seiner Charakterauffassung lernt man im
aEinzelnen kennen aus einer Anzahl von Heiligenköpfen al Fresco in
der Academie zu Florenz; wozu noch ein herrliches Eccehomo im

1) Die beiden wunderschönen kleinen Täfelchen in den Uffizien (Anbetung des
Kindes, und Darstellung im Tempel) gelten als frühe Arbeiten, aus der Zeit,
da der Meister noch nicht ins Kloster S. Marco getreten war. (Also vor
1500.) Ich kann mich nach öfterer Untersuchung immer weniger in diese
Zeitannahme schicken. -- Die sichere Reihe der Werke des Frate beginnt
dann um 1504 mit der Madonna di S. Bernardo, in der Academie.

Malerei des XVI. Jahrhunderts. Fra Bartolommeo.
sie nicht wussten, dass Alles was bei ihm so aussah, durch sein
innerstes persönliches Wesen bedingt gewesen war.


Die florentinische Malerei blüht mit Lionardo und Michelangelo
noch nicht vollständig aus. Die unermesslichen Lebenstriebe, welche
das XV. Jahrh. in dieser Weihestätte der Kunst geweckt und aus-
gebildet hatte, erreichen noch in zwei andern grossen Meistern eine
Vollendung, welche ganz eigener Art und von jenen beiden wesentlich
unabhängig ist.

Der eine ist Fra Bartolommeo (eigentlich Baccio della Porta,
1469—1517), ursprünglich Schüler des Cosimo Rosselli; seine Be-
freiung aus den Banden des XV. Jahrhunderts verdankte er Lionardo;
sein positiver Inhalt ist ihm eigen 1). Er zuerst hat das hohe Gefühl
vollständig zu empfinden und wieder zu erwecken vermocht, welches
aus dem Zusammenklang grossartiger Charaktere, reiner imposanter
Gewandungen und einer nicht bloss symmetrischen, sondern architek-
tonisch aufgebauten Gruppirung entsteht. Seine persönliche Empfin-
dung hat nicht immer genügt, um dieses gewaltige Gerüste völlig zu
beleben, und hierin steht er dem Lionardo nach, welcher immer Schön-
heit, Leben und Charakter an Einem Stücke giebt. Auch würde er
für bewegte Compositionen überhaupt nicht ausgereicht haben. Allein
was das Altarwerk im engern Sinn verlangt, hat Keiner mit vollkomm-
nerer Hoheit dargestellt.

Die Freiheit und Grösse seiner Charakterauffassung lernt man im
aEinzelnen kennen aus einer Anzahl von Heiligenköpfen al Fresco in
der Academie zu Florenz; wozu noch ein herrliches Eccehomo im

1) Die beiden wunderschönen kleinen Täfelchen in den Uffizien (Anbetung des
Kindes, und Darstellung im Tempel) gelten als frühe Arbeiten, aus der Zeit,
da der Meister noch nicht ins Kloster S. Marco getreten war. (Also vor
1500.) Ich kann mich nach öfterer Untersuchung immer weniger in diese
Zeitannahme schicken. — Die sichere Reihe der Werke des Frate beginnt
dann um 1504 mit der Madonna di S. Bernardo, in der Academie.
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[880/0902] Malerei des XVI. Jahrhunderts. Fra Bartolommeo. sie nicht wussten, dass Alles was bei ihm so aussah, durch sein innerstes persönliches Wesen bedingt gewesen war. Die florentinische Malerei blüht mit Lionardo und Michelangelo noch nicht vollständig aus. Die unermesslichen Lebenstriebe, welche das XV. Jahrh. in dieser Weihestätte der Kunst geweckt und aus- gebildet hatte, erreichen noch in zwei andern grossen Meistern eine Vollendung, welche ganz eigener Art und von jenen beiden wesentlich unabhängig ist. Der eine ist Fra Bartolommeo (eigentlich Baccio della Porta, 1469—1517), ursprünglich Schüler des Cosimo Rosselli; seine Be- freiung aus den Banden des XV. Jahrhunderts verdankte er Lionardo; sein positiver Inhalt ist ihm eigen 1). Er zuerst hat das hohe Gefühl vollständig zu empfinden und wieder zu erwecken vermocht, welches aus dem Zusammenklang grossartiger Charaktere, reiner imposanter Gewandungen und einer nicht bloss symmetrischen, sondern architek- tonisch aufgebauten Gruppirung entsteht. Seine persönliche Empfin- dung hat nicht immer genügt, um dieses gewaltige Gerüste völlig zu beleben, und hierin steht er dem Lionardo nach, welcher immer Schön- heit, Leben und Charakter an Einem Stücke giebt. Auch würde er für bewegte Compositionen überhaupt nicht ausgereicht haben. Allein was das Altarwerk im engern Sinn verlangt, hat Keiner mit vollkomm- nerer Hoheit dargestellt. Die Freiheit und Grösse seiner Charakterauffassung lernt man im Einzelnen kennen aus einer Anzahl von Heiligenköpfen al Fresco in der Academie zu Florenz; wozu noch ein herrliches Eccehomo im a 1) Die beiden wunderschönen kleinen Täfelchen in den Uffizien (Anbetung des Kindes, und Darstellung im Tempel) gelten als frühe Arbeiten, aus der Zeit, da der Meister noch nicht ins Kloster S. Marco getreten war. (Also vor 1500.) Ich kann mich nach öfterer Untersuchung immer weniger in diese Zeitannahme schicken. — Die sichere Reihe der Werke des Frate beginnt dann um 1504 mit der Madonna di S. Bernardo, in der Academie.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 880. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/902>, abgerufen am 19.05.2024.