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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Malerei des XVI. Jahrhunderts. Michelangelo.
haupt keine heiligen Familien malen. Der Hintergrund ist, wie bei
Luca Signorelli, mit Aktfiguren ohne nähere Beziehung bevölkert. Der
kleine Johannes läuft an der steinernen Brustwehr mit einer spötti-
schen Miene vorbei.

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Im Pal. Buonarroti zu Florenz (S. 665, a) sind eine Anzahl Zeich-
nungen
ausgestellt, unter welchen die einer säugenden Madonna
besonders schön ist; -- ein früherer Entwurf des Weltgerichtes; --
ein vielleicht von M. begonnenes grosses Bild der heil. Familie, das
er aber den vielen Verzeichnungen und Roheiten zufolge schwerlich
bselbst ausgemalt haben kann. -- In der Brera zu Mailand die ehemals
in Rafaels Besitz befindliche (und ihm selber trotz der von seiner Hand
herrührenden Unterschrift "Michelle angelo bonarota" beigelegte) Tusch-
zeichnung des sog. Götterschiessens, il bersaglio de' Dei; nackte
Gestalten, aus der Luft niedersausend, zielen mit höchster Leidenschaft
nach einer mit einem Schilde gegen ihre Pfeile geschützten Herme,
indess Amor auf der Seite schlummert; eine herrliche Gruppe, aus
bereits knieenden, laufenden und noch schwebenden Figuren zu einem
unvergleichlichen Ganzen gebildet. Rafael mochte ein anregendes Pro-
blem darin finden, dieselbe durch einen seiner Schüler in Fresco, und
zwar von der umgekehrten Seite, ausführen zu lassen; wenigstens ist
cdiess der Inhalt eines der drei Frescobilder, welche aus der sog. Villa
di Raffaelle in den Pal. Borghese zu Rom übergegangen sind.

Andere Compositionen existiren nur in Ausführungen von der
dHand der Schüler. -- Ich weiss nicht, ob das Bild der drei Parzen,
im Pal. Pitti (ausgeführt 1) von Rosso Fiorentino) unbedingt in diese
Categorie gehört; Michelangelo hätte einen solchen Gegenstand wohl
egewaltiger aufgefasst. -- Mehrmals (z. B. Pal. Sciarra und Pal. Cor-
sini in Rom) kommt eine heil. Familie von besonders feierlicher In-
tention vor; Maria, auf einer Art von Thron sitzend, legt eben das
Buch weg und sieht auf das fest schlafende, grandios auf ihrem Knie
liegende Kind; von hinten schauen lauschend herüber Joseph und der
fkleine Johannes. -- In der Sacristei des Laterans: eine Verkündigung,
gvon Marcello Venusti ausgeführt. -- Christus am Ölberg, nicht eben
glücklich in zwei Momente geschieden, u. a. im Pal. Doria zu Rom.

1) Nach Ansicht meines verehrten Freundes Hrn. Director Waagen.

Malerei des XVI. Jahrhunderts. Michelangelo.
haupt keine heiligen Familien malen. Der Hintergrund ist, wie bei
Luca Signorelli, mit Aktfiguren ohne nähere Beziehung bevölkert. Der
kleine Johannes läuft an der steinernen Brustwehr mit einer spötti-
schen Miene vorbei.

a

Im Pal. Buonarroti zu Florenz (S. 665, a) sind eine Anzahl Zeich-
nungen
ausgestellt, unter welchen die einer säugenden Madonna
besonders schön ist; — ein früherer Entwurf des Weltgerichtes; —
ein vielleicht von M. begonnenes grosses Bild der heil. Familie, das
er aber den vielen Verzeichnungen und Roheiten zufolge schwerlich
bselbst ausgemalt haben kann. — In der Brera zu Mailand die ehemals
in Rafaels Besitz befindliche (und ihm selber trotz der von seiner Hand
herrührenden Unterschrift „Michelle angelo bonarota“ beigelegte) Tusch-
zeichnung des sog. Götterschiessens, il bersaglio de’ Dei; nackte
Gestalten, aus der Luft niedersausend, zielen mit höchster Leidenschaft
nach einer mit einem Schilde gegen ihre Pfeile geschützten Herme,
indess Amor auf der Seite schlummert; eine herrliche Gruppe, aus
bereits knieenden, laufenden und noch schwebenden Figuren zu einem
unvergleichlichen Ganzen gebildet. Rafael mochte ein anregendes Pro-
blem darin finden, dieselbe durch einen seiner Schüler in Fresco, und
zwar von der umgekehrten Seite, ausführen zu lassen; wenigstens ist
cdiess der Inhalt eines der drei Frescobilder, welche aus der sog. Villa
di Raffaelle in den Pal. Borghese zu Rom übergegangen sind.

Andere Compositionen existiren nur in Ausführungen von der
dHand der Schüler. — Ich weiss nicht, ob das Bild der drei Parzen,
im Pal. Pitti (ausgeführt 1) von Rosso Fiorentino) unbedingt in diese
Categorie gehört; Michelangelo hätte einen solchen Gegenstand wohl
egewaltiger aufgefasst. — Mehrmals (z. B. Pal. Sciarra und Pal. Cor-
sini in Rom) kommt eine heil. Familie von besonders feierlicher In-
tention vor; Maria, auf einer Art von Thron sitzend, legt eben das
Buch weg und sieht auf das fest schlafende, grandios auf ihrem Knie
liegende Kind; von hinten schauen lauschend herüber Joseph und der
fkleine Johannes. — In der Sacristei des Laterans: eine Verkündigung,
gvon Marcello Venusti ausgeführt. — Christus am Ölberg, nicht eben
glücklich in zwei Momente geschieden, u. a. im Pal. Doria zu Rom.

1) Nach Ansicht meines verehrten Freundes Hrn. Director Waagen.
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[878/0900] Malerei des XVI. Jahrhunderts. Michelangelo. haupt keine heiligen Familien malen. Der Hintergrund ist, wie bei Luca Signorelli, mit Aktfiguren ohne nähere Beziehung bevölkert. Der kleine Johannes läuft an der steinernen Brustwehr mit einer spötti- schen Miene vorbei. Im Pal. Buonarroti zu Florenz (S. 665, a) sind eine Anzahl Zeich- nungen ausgestellt, unter welchen die einer säugenden Madonna besonders schön ist; — ein früherer Entwurf des Weltgerichtes; — ein vielleicht von M. begonnenes grosses Bild der heil. Familie, das er aber den vielen Verzeichnungen und Roheiten zufolge schwerlich selbst ausgemalt haben kann. — In der Brera zu Mailand die ehemals in Rafaels Besitz befindliche (und ihm selber trotz der von seiner Hand herrührenden Unterschrift „Michelle angelo bonarota“ beigelegte) Tusch- zeichnung des sog. Götterschiessens, il bersaglio de’ Dei; nackte Gestalten, aus der Luft niedersausend, zielen mit höchster Leidenschaft nach einer mit einem Schilde gegen ihre Pfeile geschützten Herme, indess Amor auf der Seite schlummert; eine herrliche Gruppe, aus bereits knieenden, laufenden und noch schwebenden Figuren zu einem unvergleichlichen Ganzen gebildet. Rafael mochte ein anregendes Pro- blem darin finden, dieselbe durch einen seiner Schüler in Fresco, und zwar von der umgekehrten Seite, ausführen zu lassen; wenigstens ist diess der Inhalt eines der drei Frescobilder, welche aus der sog. Villa di Raffaelle in den Pal. Borghese zu Rom übergegangen sind. b c Andere Compositionen existiren nur in Ausführungen von der Hand der Schüler. — Ich weiss nicht, ob das Bild der drei Parzen, im Pal. Pitti (ausgeführt 1) von Rosso Fiorentino) unbedingt in diese Categorie gehört; Michelangelo hätte einen solchen Gegenstand wohl gewaltiger aufgefasst. — Mehrmals (z. B. Pal. Sciarra und Pal. Cor- sini in Rom) kommt eine heil. Familie von besonders feierlicher In- tention vor; Maria, auf einer Art von Thron sitzend, legt eben das Buch weg und sieht auf das fest schlafende, grandios auf ihrem Knie liegende Kind; von hinten schauen lauschend herüber Joseph und der kleine Johannes. — In der Sacristei des Laterans: eine Verkündigung, von Marcello Venusti ausgeführt. — Christus am Ölberg, nicht eben glücklich in zwei Momente geschieden, u. a. im Pal. Doria zu Rom. d e f g 1) Nach Ansicht meines verehrten Freundes Hrn. Director Waagen.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 878. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/900>, abgerufen am 10.06.2024.