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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Bernardino Luini.
was keine Schule und kein Lehrer verleiht, grossgefühlte, aus der tief-
sten Auffassung des Gegenstandes hervorgegangene Motive.

Über die Umgebung von Mailand hinaus kommen nur kleinere,
vereinzelte Bilder von ihm vor. Ausser den genannten (S. 863) ist
das Bedeutendste die Enthauptung Johannis, in der Tribuna dera
Uffizien, lange dem Lionardo beigelegt, obschon die Bildung der Hände,
die etwas allgemeine Schönheit der Königstochter und ihrer Magd,
die glasige, verblasene Oberfläche des Nackten deutlich auf den Schü-
ler hinwies. Der Henker grinsend und doch nicht fratzenhaft, das
Haupt des Täufers ungemein edel. So charakterisirt die goldene Zeit!
Der in der Nähe hängende Johanneskopf Coreggio's gehört daneben
dem modernen Naturalismus an. -- Im Pal. Capponi zu Florenz: Ma-b
donna, das Kind küssend. -- Im Pal. Spinola (Strada nuova) zu Ge-c
nua: herrliche Madonna mit dem segnenden Kind, nebst S. Stephan
und S. Jacobus d. ä., von L. oder einem Mitschüler (nicht wohl C. da
Sesto), mit Benützung des rafaelischen Motives des "reveil de l'enfant"
(Museum von Neapel). -- Andere Madonnen a. m. O.

In Mailand enthalten die Privatsammlungen und die Ambrosianad
Manches von ihm; von den Kirchen ist S. Maurizio (Monasteroe
maggiore) vor Allem sehenswerth, wegen der Fresken des XVI.
Jahrh., deren trefflichste (vor Allem die beiden neben dem Haupt-
altar) sein Werk sind. In diesen ruhigen Andachtsbildern, wo ihn
der Gegenstand vor der Regellosigkeit schützte, ist seine Liebenswür-
digkeit übermächtig! Aus der gleichen späten Zeit stammt auch das
beste seiner Frescobilder in der Brera, eine thronende Madonna mitf
S. Antonius und S. Barbara (1521). Die übrigen Fresken sind zum
Theil früh, wie z. B. die noch etwas zaghaften mythologischen und
genreartigen, deren Naivetät noch ganz den Vorabend der goldenen
Zeit bezeichnet. Auch neun Bilder aus dem Leben der Maria und
die schöne Composition der von Engeln getragenen Leiche der heil.
Catharina sind frühe Arbeiten. Dann spätere, vollendete Tafelbilder:
Madonna mit dem Kind und Madonna mit Heiligen und Donatoren 1).

1) Aurelio Luini, der Sohn Bernardino's, ist ein Manierist in der Art der
römischen Schule; hier ein grosses Fresco mit der Marter des S. Vicenzino.*
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Bernardino Luini.
was keine Schule und kein Lehrer verleiht, grossgefühlte, aus der tief-
sten Auffassung des Gegenstandes hervorgegangene Motive.

Über die Umgebung von Mailand hinaus kommen nur kleinere,
vereinzelte Bilder von ihm vor. Ausser den genannten (S. 863) ist
das Bedeutendste die Enthauptung Johannis, in der Tribuna dera
Uffizien, lange dem Lionardo beigelegt, obschon die Bildung der Hände,
die etwas allgemeine Schönheit der Königstochter und ihrer Magd,
die glasige, verblasene Oberfläche des Nackten deutlich auf den Schü-
ler hinwies. Der Henker grinsend und doch nicht fratzenhaft, das
Haupt des Täufers ungemein edel. So charakterisirt die goldene Zeit!
Der in der Nähe hängende Johanneskopf Coreggio’s gehört daneben
dem modernen Naturalismus an. — Im Pal. Capponi zu Florenz: Ma-b
donna, das Kind küssend. — Im Pal. Spinola (Strada nuova) zu Ge-c
nua: herrliche Madonna mit dem segnenden Kind, nebst S. Stephan
und S. Jacobus d. ä., von L. oder einem Mitschüler (nicht wohl C. da
Sesto), mit Benützung des rafaelischen Motives des „réveil de l’enfant“
(Museum von Neapel). — Andere Madonnen a. m. O.

In Mailand enthalten die Privatsammlungen und die Ambrosianad
Manches von ihm; von den Kirchen ist S. Maurizio (Monasteroe
maggiore) vor Allem sehenswerth, wegen der Fresken des XVI.
Jahrh., deren trefflichste (vor Allem die beiden neben dem Haupt-
altar) sein Werk sind. In diesen ruhigen Andachtsbildern, wo ihn
der Gegenstand vor der Regellosigkeit schützte, ist seine Liebenswür-
digkeit übermächtig! Aus der gleichen späten Zeit stammt auch das
beste seiner Frescobilder in der Brera, eine thronende Madonna mitf
S. Antonius und S. Barbara (1521). Die übrigen Fresken sind zum
Theil früh, wie z. B. die noch etwas zaghaften mythologischen und
genreartigen, deren Naivetät noch ganz den Vorabend der goldenen
Zeit bezeichnet. Auch neun Bilder aus dem Leben der Maria und
die schöne Composition der von Engeln getragenen Leiche der heil.
Catharina sind frühe Arbeiten. Dann spätere, vollendete Tafelbilder:
Madonna mit dem Kind und Madonna mit Heiligen und Donatoren 1).

1) Aurelio Luini, der Sohn Bernardino’s, ist ein Manierist in der Art der
römischen Schule; hier ein grosses Fresco mit der Marter des S. Vicenzino.*
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[867/0889] Bernardino Luini. was keine Schule und kein Lehrer verleiht, grossgefühlte, aus der tief- sten Auffassung des Gegenstandes hervorgegangene Motive. Über die Umgebung von Mailand hinaus kommen nur kleinere, vereinzelte Bilder von ihm vor. Ausser den genannten (S. 863) ist das Bedeutendste die Enthauptung Johannis, in der Tribuna der Uffizien, lange dem Lionardo beigelegt, obschon die Bildung der Hände, die etwas allgemeine Schönheit der Königstochter und ihrer Magd, die glasige, verblasene Oberfläche des Nackten deutlich auf den Schü- ler hinwies. Der Henker grinsend und doch nicht fratzenhaft, das Haupt des Täufers ungemein edel. So charakterisirt die goldene Zeit! Der in der Nähe hängende Johanneskopf Coreggio’s gehört daneben dem modernen Naturalismus an. — Im Pal. Capponi zu Florenz: Ma- donna, das Kind küssend. — Im Pal. Spinola (Strada nuova) zu Ge- nua: herrliche Madonna mit dem segnenden Kind, nebst S. Stephan und S. Jacobus d. ä., von L. oder einem Mitschüler (nicht wohl C. da Sesto), mit Benützung des rafaelischen Motives des „réveil de l’enfant“ (Museum von Neapel). — Andere Madonnen a. m. O. a b c In Mailand enthalten die Privatsammlungen und die Ambrosiana Manches von ihm; von den Kirchen ist S. Maurizio (Monastero maggiore) vor Allem sehenswerth, wegen der Fresken des XVI. Jahrh., deren trefflichste (vor Allem die beiden neben dem Haupt- altar) sein Werk sind. In diesen ruhigen Andachtsbildern, wo ihn der Gegenstand vor der Regellosigkeit schützte, ist seine Liebenswür- digkeit übermächtig! Aus der gleichen späten Zeit stammt auch das beste seiner Frescobilder in der Brera, eine thronende Madonna mit S. Antonius und S. Barbara (1521). Die übrigen Fresken sind zum Theil früh, wie z. B. die noch etwas zaghaften mythologischen und genreartigen, deren Naivetät noch ganz den Vorabend der goldenen Zeit bezeichnet. Auch neun Bilder aus dem Leben der Maria und die schöne Composition der von Engeln getragenen Leiche der heil. Catharina sind frühe Arbeiten. Dann spätere, vollendete Tafelbilder: Madonna mit dem Kind und Madonna mit Heiligen und Donatoren 1). d e f 1) Aurelio Luini, der Sohn Bernardino’s, ist ein Manierist in der Art der römischen Schule; hier ein grosses Fresco mit der Marter des S. Vicenzino. 55*

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 867. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/889>, abgerufen am 17.06.2024.