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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Lionardo da Vinci.
grosse Maler bereits genannt haben. Man kann sagen, dass die be-
schränkte Lebenszeit Rafaels (1483--1520) alles Vollkommenste hat
entstehen sehen, und dass unmittelbar darauf, selbst bei den Grössten,
die ihn überlebten, der Verfall beginnt. Allein jenes Vollkommenste
ist zum Trost und zur Bewunderung für alle Zeiten geschaffen und
sein Name ist Unsterblichkeit.


Lionardo da Vinci (1452--1519), der Schüler Verocchio's,
sichert der florentinischen Schule den wohlverdienten Ruhm, dass aus
ihrer Mitte zuerst der befreiende Genius emporstieg. Eine wunderbar
begabte Natur, als Architekt, Bildhauer, Ingenieur, Physiker und Ana-
tom überall Begründer und Entdecker, dabei in jeder andern Be-
ziehung der vollkommene Mensch, riesenstark, schön bis ins hohe Al-
ter, als Musiker und Improvisator berühmt. Man darf nicht sagen,
dass er sich zersplittert habe, denn die vielseitige Thätigkeit war ihm
Natur. Aber bejammern darf man, dass von seinen Entwürfen in allen
Künsten so wenig zu Stande gekommen und dass von dem Wenigen
das Beste untergegangen oder nur noch als Ruine vorhanden ist.

Als Maler umfasst er wiederum die am meisten entgegengesetz-
ten Begabungen. Rastlos bemüht, sich die Ursachen aller leiblichen
Erscheinungen und Bewegungen durch die Anatomie klar zu machen,
wendet er sich mit unvergleichlich rascher und sicherer Auffassung
ebenso auf den geistigen Ausdruck und verfolgt denselben vom Himm-
lisch-Reinen bis in alle Tiefen des Verworfenen und Lächerlichen.
Seine Federskizzen, deren Viele in der Ambrosiana zu Mailand aus-a
gestellt sind, geben hiezu die reichlichsten Belege. -- Zugleich aber
ist in ihm die schönste Schwärmerseele mit der gewaltigsten Kraft des
Gedankens und mit dem höchsten Bewusstsein von den Bedingungen
der idealen Composition verbunden. Er ist wirklicher als alle Frühern
wo das Wirkliche gestattet ist, und dann wieder so erhaben und frei
wie Wenige in allen Jahrhunderten.

Seine frühsten erhaltenen Werke 1) sind Porträts, und an diesen
lässt sich auch seine eigenthümliche Malweise am genausten verfolgen.

1) Der Medusenkopf in den Uffizien ist, wie ich glaube, nicht nur nicht die von*
Vasari geschilderte Jugendarbeit L.'s, sondern nicht einmal eine Copie da-

Lionardo da Vinci.
grosse Maler bereits genannt haben. Man kann sagen, dass die be-
schränkte Lebenszeit Rafaels (1483—1520) alles Vollkommenste hat
entstehen sehen, und dass unmittelbar darauf, selbst bei den Grössten,
die ihn überlebten, der Verfall beginnt. Allein jenes Vollkommenste
ist zum Trost und zur Bewunderung für alle Zeiten geschaffen und
sein Name ist Unsterblichkeit.


Lionardo da Vinci (1452—1519), der Schüler Verocchio’s,
sichert der florentinischen Schule den wohlverdienten Ruhm, dass aus
ihrer Mitte zuerst der befreiende Genius emporstieg. Eine wunderbar
begabte Natur, als Architekt, Bildhauer, Ingenieur, Physiker und Ana-
tom überall Begründer und Entdecker, dabei in jeder andern Be-
ziehung der vollkommene Mensch, riesenstark, schön bis ins hohe Al-
ter, als Musiker und Improvisator berühmt. Man darf nicht sagen,
dass er sich zersplittert habe, denn die vielseitige Thätigkeit war ihm
Natur. Aber bejammern darf man, dass von seinen Entwürfen in allen
Künsten so wenig zu Stande gekommen und dass von dem Wenigen
das Beste untergegangen oder nur noch als Ruine vorhanden ist.

Als Maler umfasst er wiederum die am meisten entgegengesetz-
ten Begabungen. Rastlos bemüht, sich die Ursachen aller leiblichen
Erscheinungen und Bewegungen durch die Anatomie klar zu machen,
wendet er sich mit unvergleichlich rascher und sicherer Auffassung
ebenso auf den geistigen Ausdruck und verfolgt denselben vom Himm-
lisch-Reinen bis in alle Tiefen des Verworfenen und Lächerlichen.
Seine Federskizzen, deren Viele in der Ambrosiana zu Mailand aus-a
gestellt sind, geben hiezu die reichlichsten Belege. — Zugleich aber
ist in ihm die schönste Schwärmerseele mit der gewaltigsten Kraft des
Gedankens und mit dem höchsten Bewusstsein von den Bedingungen
der idealen Composition verbunden. Er ist wirklicher als alle Frühern
wo das Wirkliche gestattet ist, und dann wieder so erhaben und frei
wie Wenige in allen Jahrhunderten.

Seine frühsten erhaltenen Werke 1) sind Porträts, und an diesen
lässt sich auch seine eigenthümliche Malweise am genausten verfolgen.

1) Der Medusenkopf in den Uffizien ist, wie ich glaube, nicht nur nicht die von*
Vasari geschilderte Jugendarbeit L.’s, sondern nicht einmal eine Copie da-
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[859/0881] Lionardo da Vinci. grosse Maler bereits genannt haben. Man kann sagen, dass die be- schränkte Lebenszeit Rafaels (1483—1520) alles Vollkommenste hat entstehen sehen, und dass unmittelbar darauf, selbst bei den Grössten, die ihn überlebten, der Verfall beginnt. Allein jenes Vollkommenste ist zum Trost und zur Bewunderung für alle Zeiten geschaffen und sein Name ist Unsterblichkeit. Lionardo da Vinci (1452—1519), der Schüler Verocchio’s, sichert der florentinischen Schule den wohlverdienten Ruhm, dass aus ihrer Mitte zuerst der befreiende Genius emporstieg. Eine wunderbar begabte Natur, als Architekt, Bildhauer, Ingenieur, Physiker und Ana- tom überall Begründer und Entdecker, dabei in jeder andern Be- ziehung der vollkommene Mensch, riesenstark, schön bis ins hohe Al- ter, als Musiker und Improvisator berühmt. Man darf nicht sagen, dass er sich zersplittert habe, denn die vielseitige Thätigkeit war ihm Natur. Aber bejammern darf man, dass von seinen Entwürfen in allen Künsten so wenig zu Stande gekommen und dass von dem Wenigen das Beste untergegangen oder nur noch als Ruine vorhanden ist. Als Maler umfasst er wiederum die am meisten entgegengesetz- ten Begabungen. Rastlos bemüht, sich die Ursachen aller leiblichen Erscheinungen und Bewegungen durch die Anatomie klar zu machen, wendet er sich mit unvergleichlich rascher und sicherer Auffassung ebenso auf den geistigen Ausdruck und verfolgt denselben vom Himm- lisch-Reinen bis in alle Tiefen des Verworfenen und Lächerlichen. Seine Federskizzen, deren Viele in der Ambrosiana zu Mailand aus- gestellt sind, geben hiezu die reichlichsten Belege. — Zugleich aber ist in ihm die schönste Schwärmerseele mit der gewaltigsten Kraft des Gedankens und mit dem höchsten Bewusstsein von den Bedingungen der idealen Composition verbunden. Er ist wirklicher als alle Frühern wo das Wirkliche gestattet ist, und dann wieder so erhaben und frei wie Wenige in allen Jahrhunderten. a Seine frühsten erhaltenen Werke 1) sind Porträts, und an diesen lässt sich auch seine eigenthümliche Malweise am genausten verfolgen. 1) Der Medusenkopf in den Uffizien ist, wie ich glaube, nicht nur nicht die von Vasari geschilderte Jugendarbeit L.’s, sondern nicht einmal eine Copie da-

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 859. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/881>, abgerufen am 17.06.2024.