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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Malerei des XV. Jahrhunderts. Toscaner.
av. Florenz; Uffizien; Galerie Borghese in Rom, u. a. a. O.) Seine
beinzige grosse Composition, eine Anbetung des Kindes (Acad.
v. Florenz), zeigt auf merkwürdige Weise, wie auch ein weniger be-
gabter aber beharrlicher Künstler in jener Zeit das Herrlichste leisten
konnte, indem sein Sinn für Anmuth der Formen und des Ausdruckes
noch nicht durch feststehende Theorien und Vorbilder irre gemacht
wurde, sodass er sein Eigenstes geben konnte und musste; -- indem
jene Zeit noch nicht im Bewegt-Pathetischen rivalisirte, an welchem
die nur bedingt Begabten untergehen; -- indem endlich der realistische
Grundtrieb der Zeit vor dem Langweiligen, d. h. Allgemeinen und
Conventionellen schützt. In dem genannten Bilde ist zwar schon etwas
von jenem überschüssigen Gefühl, welches in der peruginischen Schule
eine so grosse Rolle spielt (s. den Jüngling mit dem Lamme), allein
man vergisst dieses und den nicht ganz unbefangenen Bau der Gruppe
ob der zauberhaften Schönheit der meisten Gestalten. -- Die kleinen
cBilder mit biblischen Scenen in den Uffizien geben keinen Begriff von
Lorenzo's Kunstvermögen. (Ist etwa von ihm die Madonna mit zwei
dHeiligen, in S. Spirito, auf einem der 4 Altäre ganz hinten? Angeblich
"Manier Sandro's".)


Ausserhalb dieser Reihe steht der grosse Luca da Cortona,
eigentlich Signorelli (1439--1521). Er war der Schüler des Piero
della Francesca (von welchem bei der paduanischen Schule die Rede
sein wird) nahm aber stärkere florentinische Eindrücke in sich auf.
-- Dem Ghirlandajo ebenbürtig in der grossartigen Auffassung des
Geschehens und der Existenzen, wählt er doch seine Einzelformen
weniger und ist stellenweise des Derbsten fähig; andererseits zeigt
sich bei ihm zuerst die Begeisterung für das Nackte als eine wesent-
lich bestimmende Rücksicht für die Darstellung, selbst für die Wahl
der Gegenstände. In diesem Sinne ist er der nächste Vorläufer des
Michelangelo.

e

Seine Fresken im Kloster Monte Oliveto (südlich von Siena),
Scenen aus der Geschichte des heil. Benedict, hat Verf. dieses nicht
fgesehen. Sein Hauptwerk sind jedenfalls die Fresken in der Madon-
nencapelle des Domes von Orvieto (seit 1499), welche mit den-

Malerei des XV. Jahrhunderts. Toscaner.
av. Florenz; Uffizien; Galerie Borghese in Rom, u. a. a. O.) Seine
beinzige grosse Composition, eine Anbetung des Kindes (Acad.
v. Florenz), zeigt auf merkwürdige Weise, wie auch ein weniger be-
gabter aber beharrlicher Künstler in jener Zeit das Herrlichste leisten
konnte, indem sein Sinn für Anmuth der Formen und des Ausdruckes
noch nicht durch feststehende Theorien und Vorbilder irre gemacht
wurde, sodass er sein Eigenstes geben konnte und musste; — indem
jene Zeit noch nicht im Bewegt-Pathetischen rivalisirte, an welchem
die nur bedingt Begabten untergehen; — indem endlich der realistische
Grundtrieb der Zeit vor dem Langweiligen, d. h. Allgemeinen und
Conventionellen schützt. In dem genannten Bilde ist zwar schon etwas
von jenem überschüssigen Gefühl, welches in der peruginischen Schule
eine so grosse Rolle spielt (s. den Jüngling mit dem Lamme), allein
man vergisst dieses und den nicht ganz unbefangenen Bau der Gruppe
ob der zauberhaften Schönheit der meisten Gestalten. — Die kleinen
cBilder mit biblischen Scenen in den Uffizien geben keinen Begriff von
Lorenzo’s Kunstvermögen. (Ist etwa von ihm die Madonna mit zwei
dHeiligen, in S. Spirito, auf einem der 4 Altäre ganz hinten? Angeblich
„Manier Sandro’s“.)


Ausserhalb dieser Reihe steht der grosse Luca da Cortona,
eigentlich Signorelli (1439—1521). Er war der Schüler des Piero
della Francesca (von welchem bei der paduanischen Schule die Rede
sein wird) nahm aber stärkere florentinische Eindrücke in sich auf.
— Dem Ghirlandajo ebenbürtig in der grossartigen Auffassung des
Geschehens und der Existenzen, wählt er doch seine Einzelformen
weniger und ist stellenweise des Derbsten fähig; andererseits zeigt
sich bei ihm zuerst die Begeisterung für das Nackte als eine wesent-
lich bestimmende Rücksicht für die Darstellung, selbst für die Wahl
der Gegenstände. In diesem Sinne ist er der nächste Vorläufer des
Michelangelo.

e

Seine Fresken im Kloster Monte Oliveto (südlich von Siena),
Scenen aus der Geschichte des heil. Benedict, hat Verf. dieses nicht
fgesehen. Sein Hauptwerk sind jedenfalls die Fresken in der Madon-
nencapelle des Domes von Orvieto (seit 1499), welche mit den-

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[808/0830] Malerei des XV. Jahrhunderts. Toscaner. v. Florenz; Uffizien; Galerie Borghese in Rom, u. a. a. O.) Seine einzige grosse Composition, eine Anbetung des Kindes (Acad. v. Florenz), zeigt auf merkwürdige Weise, wie auch ein weniger be- gabter aber beharrlicher Künstler in jener Zeit das Herrlichste leisten konnte, indem sein Sinn für Anmuth der Formen und des Ausdruckes noch nicht durch feststehende Theorien und Vorbilder irre gemacht wurde, sodass er sein Eigenstes geben konnte und musste; — indem jene Zeit noch nicht im Bewegt-Pathetischen rivalisirte, an welchem die nur bedingt Begabten untergehen; — indem endlich der realistische Grundtrieb der Zeit vor dem Langweiligen, d. h. Allgemeinen und Conventionellen schützt. In dem genannten Bilde ist zwar schon etwas von jenem überschüssigen Gefühl, welches in der peruginischen Schule eine so grosse Rolle spielt (s. den Jüngling mit dem Lamme), allein man vergisst dieses und den nicht ganz unbefangenen Bau der Gruppe ob der zauberhaften Schönheit der meisten Gestalten. — Die kleinen Bilder mit biblischen Scenen in den Uffizien geben keinen Begriff von Lorenzo’s Kunstvermögen. (Ist etwa von ihm die Madonna mit zwei Heiligen, in S. Spirito, auf einem der 4 Altäre ganz hinten? Angeblich „Manier Sandro’s“.) a b c d Ausserhalb dieser Reihe steht der grosse Luca da Cortona, eigentlich Signorelli (1439—1521). Er war der Schüler des Piero della Francesca (von welchem bei der paduanischen Schule die Rede sein wird) nahm aber stärkere florentinische Eindrücke in sich auf. — Dem Ghirlandajo ebenbürtig in der grossartigen Auffassung des Geschehens und der Existenzen, wählt er doch seine Einzelformen weniger und ist stellenweise des Derbsten fähig; andererseits zeigt sich bei ihm zuerst die Begeisterung für das Nackte als eine wesent- lich bestimmende Rücksicht für die Darstellung, selbst für die Wahl der Gegenstände. In diesem Sinne ist er der nächste Vorläufer des Michelangelo. Seine Fresken im Kloster Monte Oliveto (südlich von Siena), Scenen aus der Geschichte des heil. Benedict, hat Verf. dieses nicht gesehen. Sein Hauptwerk sind jedenfalls die Fresken in der Madon- nencapelle des Domes von Orvieto (seit 1499), welche mit den- f

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 808. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/830>, abgerufen am 10.06.2024.