den Körpertheile, auf Kosten der Ruhe und selbst der Wahrschein- lichkeit. Mit seiner Stylbestimmtheit gehandhabt, brachte dieses Prin- cip das grossartige Unicum hervor, welches wir hier vor uns sehen. Für die Nachfolger war es die gerade Bahn zum Verderben.
a
Die Statue des Julian ist nicht ganz ungezwungen; wohin wen- det er seinen langen Hals und seine falschen Augen? Ganz vortreff- lich ist aber die Partie der Hände, des Feldherrnstabes und der Kniee. bLorenzo, bekannt unter dem Namen il pensiero, unvergleichlich ge- heimnissvoll durch die Beschattung des Gesichtes mit Helm, Hand und Tuch, hat doch in der Stellung seines rechten Armes etwas Un- freies. Die Arbeit ist von grösstem Werthe. -- Auch mit diesen bei- den Statuen that Michelangelo keinen Schritt in das Historisch-Cha- rakteristische, das seiner Seele widerstrebt haben muss; sie sind vielmehr in seinen Styl vollkommen eingetaucht und können als eben so frei gewählte Motive gelten, wie alles Übrige.
c
Der kaum aus dem rohen gearbeiteten Madonna lag ursprüng- lich wohl ein ausserordentlich schöner plastischer Gedanke zu Grunde; es fehlte vielleicht nicht viel, so wäre sie die einzig treffliche ganz frei sitzende Madonna geworden (indem fast alle andern nur auf den Anblick von vorn berechnet sind). Allein durch einen Fehler des Marmors oder ein "Verhauen" des Künstlers kam der rechte Arm nicht so zu Stande, wie er beabsichtigt gewesen sein muss und wurde dann hinten so angegeben, wie man ihn jetzt sieht. Vermuthlich hatte dann das Übrige mit zu leiden und wurde desshalb nur andeu- tungsweise und dürftig vollendet. Ein unruhigeres Kind hat freilich die ganze Kunst nicht gebildet, als dieser kleine Christus ist; auf dem linken Knie der Mutter vorwärts sitzend, wendet er sich sehr künst- lich rückwärts um, greift mit seinem linken Ärmchen an die linke Schulter der Mutter und sucht mit dem rechten ihre Brust.
d
(Die zwei HH. Cosmas und Damian sind Schülerarbeiten vielleicht nach ganz kleinen Modellen des Meisters.)
Aus der spätern Zeit ist wohl auch die angefangene Apostelstatue eim Hof der Academie in Florenz; sie zeigt auf das Merkwür- digste, wie Michelangelo arbeitete; ungeduldig möchte er das (gequält grossartige) Lebensmotiv, das für ihn fertig im Marmorblocke steckt,
Sculptur des XVI. Jahrhunderts. Michelangelo.
den Körpertheile, auf Kosten der Ruhe und selbst der Wahrschein- lichkeit. Mit seiner Stylbestimmtheit gehandhabt, brachte dieses Prin- cip das grossartige Unicum hervor, welches wir hier vor uns sehen. Für die Nachfolger war es die gerade Bahn zum Verderben.
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Die Statue des Julian ist nicht ganz ungezwungen; wohin wen- det er seinen langen Hals und seine falschen Augen? Ganz vortreff- lich ist aber die Partie der Hände, des Feldherrnstabes und der Kniee. bLorenzo, bekannt unter dem Namen il pensiero, unvergleichlich ge- heimnissvoll durch die Beschattung des Gesichtes mit Helm, Hand und Tuch, hat doch in der Stellung seines rechten Armes etwas Un- freies. Die Arbeit ist von grösstem Werthe. — Auch mit diesen bei- den Statuen that Michelangelo keinen Schritt in das Historisch-Cha- rakteristische, das seiner Seele widerstrebt haben muss; sie sind vielmehr in seinen Styl vollkommen eingetaucht und können als eben so frei gewählte Motive gelten, wie alles Übrige.
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Der kaum aus dem rohen gearbeiteten Madonna lag ursprüng- lich wohl ein ausserordentlich schöner plastischer Gedanke zu Grunde; es fehlte vielleicht nicht viel, so wäre sie die einzig treffliche ganz frei sitzende Madonna geworden (indem fast alle andern nur auf den Anblick von vorn berechnet sind). Allein durch einen Fehler des Marmors oder ein „Verhauen“ des Künstlers kam der rechte Arm nicht so zu Stande, wie er beabsichtigt gewesen sein muss und wurde dann hinten so angegeben, wie man ihn jetzt sieht. Vermuthlich hatte dann das Übrige mit zu leiden und wurde desshalb nur andeu- tungsweise und dürftig vollendet. Ein unruhigeres Kind hat freilich die ganze Kunst nicht gebildet, als dieser kleine Christus ist; auf dem linken Knie der Mutter vorwärts sitzend, wendet er sich sehr künst- lich rückwärts um, greift mit seinem linken Ärmchen an die linke Schulter der Mutter und sucht mit dem rechten ihre Brust.
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(Die zwei HH. Cosmas und Damian sind Schülerarbeiten vielleicht nach ganz kleinen Modellen des Meisters.)
Aus der spätern Zeit ist wohl auch die angefangene Apostelstatue eim Hof der Academie in Florenz; sie zeigt auf das Merkwür- digste, wie Michelangelo arbeitete; ungeduldig möchte er das (gequält grossartige) Lebensmotiv, das für ihn fertig im Marmorblocke steckt,
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[674/0696]
Sculptur des XVI. Jahrhunderts. Michelangelo.
den Körpertheile, auf Kosten der Ruhe und selbst der Wahrschein-
lichkeit. Mit seiner Stylbestimmtheit gehandhabt, brachte dieses Prin-
cip das grossartige Unicum hervor, welches wir hier vor uns sehen.
Für die Nachfolger war es die gerade Bahn zum Verderben.
Die Statue des Julian ist nicht ganz ungezwungen; wohin wen-
det er seinen langen Hals und seine falschen Augen? Ganz vortreff-
lich ist aber die Partie der Hände, des Feldherrnstabes und der Kniee.
Lorenzo, bekannt unter dem Namen il pensiero, unvergleichlich ge-
heimnissvoll durch die Beschattung des Gesichtes mit Helm, Hand
und Tuch, hat doch in der Stellung seines rechten Armes etwas Un-
freies. Die Arbeit ist von grösstem Werthe. — Auch mit diesen bei-
den Statuen that Michelangelo keinen Schritt in das Historisch-Cha-
rakteristische, das seiner Seele widerstrebt haben muss; sie sind
vielmehr in seinen Styl vollkommen eingetaucht und können als eben
so frei gewählte Motive gelten, wie alles Übrige.
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Der kaum aus dem rohen gearbeiteten Madonna lag ursprüng-
lich wohl ein ausserordentlich schöner plastischer Gedanke zu Grunde;
es fehlte vielleicht nicht viel, so wäre sie die einzig treffliche ganz
frei sitzende Madonna geworden (indem fast alle andern nur auf
den Anblick von vorn berechnet sind). Allein durch einen Fehler
des Marmors oder ein „Verhauen“ des Künstlers kam der rechte Arm
nicht so zu Stande, wie er beabsichtigt gewesen sein muss und wurde
dann hinten so angegeben, wie man ihn jetzt sieht. Vermuthlich
hatte dann das Übrige mit zu leiden und wurde desshalb nur andeu-
tungsweise und dürftig vollendet. Ein unruhigeres Kind hat freilich
die ganze Kunst nicht gebildet, als dieser kleine Christus ist; auf dem
linken Knie der Mutter vorwärts sitzend, wendet er sich sehr künst-
lich rückwärts um, greift mit seinem linken Ärmchen an die linke
Schulter der Mutter und sucht mit dem rechten ihre Brust.
(Die zwei HH. Cosmas und Damian sind Schülerarbeiten vielleicht
nach ganz kleinen Modellen des Meisters.)
Aus der spätern Zeit ist wohl auch die angefangene Apostelstatue
im Hof der Academie in Florenz; sie zeigt auf das Merkwür-
digste, wie Michelangelo arbeitete; ungeduldig möchte er das (gequält
grossartige) Lebensmotiv, das für ihn fertig im Marmorblocke steckt,
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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 674. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/696>, abgerufen am 18.12.2024.
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