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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Die mediceischen Grabmäler.
delte sich um die Gräber zweier ziemlich nichtswürdigen mediceischen
Sprösslinge, für welche Michelangelo am allerwenigsten sich begei-
stern konnte. Unter den Nischen mit den sitzenden Statuen derselben
brachte er die Sarcophage an und auf deren rund abschüssigen Deckel
die weltberühmten Figuren des Tages und der Nacht (bei Giuliano
Medici-Nemours), der Morgen- und der Abenddämmerung (bei Lorenzo
Medici, Herzog von Urbino). Kein Mensch hat je ergründen können,
was sie hier (abgesehen von ihrer künstlerischen Wirkung) bedeuten
sollen, wenn man sich nicht mit der ganz blassen Allegorie auf das
Hinschwinden der Zeit zufrieden geben will. Vielleicht hätte Cle-
mens VII als Besteller lieber ein paar trauernde Tugenden am Grab
seiner Verwandten Wache halten lassen -- der Künstler aber suchte
geflissentlich das Allgemeinste und Neutralste auf. Wie dem sei, diese
Allegorien sind nicht einmal bezeichnend gebildet, was denn auch, mit
Ausnahme der Nacht, eine reine Unmöglichkeit gewesen wäre. Die
Nacht ist wenigstens ein nacktes, schlafendes Weib; man darf abera
fragen: ob wohl jemals ein Mensch in dieser Stellung habe schlafen kön-
nen? sie und ihr Gefährte, der Tag, lehnen nämlich mit dem rechten
Ellbogen über den linken Schenkel. Sie ist die ausgeführteste nackte
weibliche Idealfigur 1) Michelangelo's; der Tag, mit unvollendetem
Kopf, kann vielleicht als sein vorzüglichstes Specimen herculischer
Bildung gelten. Als Motive aber sind gewiss die beiden Däm-b
merungen edler und glücklicher, namentlich der Mann sehr schön
und lebendig gewendet; das Weib (die sog. Aurora) ebenfalls mehr
ungesucht grossartig als die Nacht, wunderbar in den Linien, auch
mit einem viel schönern und lebendigern Kopf, der indess noch immer
etwas Maskenhaftes behält.

In diesen vier Statuen hat der Meister seine kühnsten Gedan-
ken über Grenzen und Zweck seiner Kunst geoffenbart; er hat frei
von allen sachlichen Beziehungen, nicht gebunden durch irgend eine
von aussen verlangte Charakteristik, den Gegenstand und seine Aus-
führung geschaffen. Das plastische Princip, das ihn leitete, ist der
bis auf das Äusserste durchgeführte Gegensatz der sich entsprechen-

1) Der Kopf, welcher tief unter dem Übrigen steht, kann kaum von M. A. aus-
geführt sein.
B. Cicerone. 43

Die mediceischen Grabmäler.
delte sich um die Gräber zweier ziemlich nichtswürdigen mediceischen
Sprösslinge, für welche Michelangelo am allerwenigsten sich begei-
stern konnte. Unter den Nischen mit den sitzenden Statuen derselben
brachte er die Sarcophage an und auf deren rund abschüssigen Deckel
die weltberühmten Figuren des Tages und der Nacht (bei Giuliano
Medici-Nemours), der Morgen- und der Abenddämmerung (bei Lorenzo
Medici, Herzog von Urbino). Kein Mensch hat je ergründen können,
was sie hier (abgesehen von ihrer künstlerischen Wirkung) bedeuten
sollen, wenn man sich nicht mit der ganz blassen Allegorie auf das
Hinschwinden der Zeit zufrieden geben will. Vielleicht hätte Cle-
mens VII als Besteller lieber ein paar trauernde Tugenden am Grab
seiner Verwandten Wache halten lassen — der Künstler aber suchte
geflissentlich das Allgemeinste und Neutralste auf. Wie dem sei, diese
Allegorien sind nicht einmal bezeichnend gebildet, was denn auch, mit
Ausnahme der Nacht, eine reine Unmöglichkeit gewesen wäre. Die
Nacht ist wenigstens ein nacktes, schlafendes Weib; man darf abera
fragen: ob wohl jemals ein Mensch in dieser Stellung habe schlafen kön-
nen? sie und ihr Gefährte, der Tag, lehnen nämlich mit dem rechten
Ellbogen über den linken Schenkel. Sie ist die ausgeführteste nackte
weibliche Idealfigur 1) Michelangelo’s; der Tag, mit unvollendetem
Kopf, kann vielleicht als sein vorzüglichstes Specimen herculischer
Bildung gelten. Als Motive aber sind gewiss die beiden Däm-b
merungen edler und glücklicher, namentlich der Mann sehr schön
und lebendig gewendet; das Weib (die sog. Aurora) ebenfalls mehr
ungesucht grossartig als die Nacht, wunderbar in den Linien, auch
mit einem viel schönern und lebendigern Kopf, der indess noch immer
etwas Maskenhaftes behält.

In diesen vier Statuen hat der Meister seine kühnsten Gedan-
ken über Grenzen und Zweck seiner Kunst geoffenbart; er hat frei
von allen sachlichen Beziehungen, nicht gebunden durch irgend eine
von aussen verlangte Charakteristik, den Gegenstand und seine Aus-
führung geschaffen. Das plastische Princip, das ihn leitete, ist der
bis auf das Äusserste durchgeführte Gegensatz der sich entsprechen-

1) Der Kopf, welcher tief unter dem Übrigen steht, kann kaum von M. A. aus-
geführt sein.
B. Cicerone. 43
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[673/0695] Die mediceischen Grabmäler. delte sich um die Gräber zweier ziemlich nichtswürdigen mediceischen Sprösslinge, für welche Michelangelo am allerwenigsten sich begei- stern konnte. Unter den Nischen mit den sitzenden Statuen derselben brachte er die Sarcophage an und auf deren rund abschüssigen Deckel die weltberühmten Figuren des Tages und der Nacht (bei Giuliano Medici-Nemours), der Morgen- und der Abenddämmerung (bei Lorenzo Medici, Herzog von Urbino). Kein Mensch hat je ergründen können, was sie hier (abgesehen von ihrer künstlerischen Wirkung) bedeuten sollen, wenn man sich nicht mit der ganz blassen Allegorie auf das Hinschwinden der Zeit zufrieden geben will. Vielleicht hätte Cle- mens VII als Besteller lieber ein paar trauernde Tugenden am Grab seiner Verwandten Wache halten lassen — der Künstler aber suchte geflissentlich das Allgemeinste und Neutralste auf. Wie dem sei, diese Allegorien sind nicht einmal bezeichnend gebildet, was denn auch, mit Ausnahme der Nacht, eine reine Unmöglichkeit gewesen wäre. Die Nacht ist wenigstens ein nacktes, schlafendes Weib; man darf aber fragen: ob wohl jemals ein Mensch in dieser Stellung habe schlafen kön- nen? sie und ihr Gefährte, der Tag, lehnen nämlich mit dem rechten Ellbogen über den linken Schenkel. Sie ist die ausgeführteste nackte weibliche Idealfigur 1) Michelangelo’s; der Tag, mit unvollendetem Kopf, kann vielleicht als sein vorzüglichstes Specimen herculischer Bildung gelten. Als Motive aber sind gewiss die beiden Däm- merungen edler und glücklicher, namentlich der Mann sehr schön und lebendig gewendet; das Weib (die sog. Aurora) ebenfalls mehr ungesucht grossartig als die Nacht, wunderbar in den Linien, auch mit einem viel schönern und lebendigern Kopf, der indess noch immer etwas Maskenhaftes behält. a b In diesen vier Statuen hat der Meister seine kühnsten Gedan- ken über Grenzen und Zweck seiner Kunst geoffenbart; er hat frei von allen sachlichen Beziehungen, nicht gebunden durch irgend eine von aussen verlangte Charakteristik, den Gegenstand und seine Aus- führung geschaffen. Das plastische Princip, das ihn leitete, ist der bis auf das Äusserste durchgeführte Gegensatz der sich entsprechen- 1) Der Kopf, welcher tief unter dem Übrigen steht, kann kaum von M. A. aus- geführt sein. B. Cicerone. 43

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 673. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/695>, abgerufen am 16.07.2024.