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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Grabmal Julius II.
lich übermenschlichen Bildung, als sie das charakteristische Leben
dieser Theile auf eine Weise gesteigert sehen lassen, die in der Wirk-
lichkeit nicht so vorkömmt. Alles bloss Künstlerische wird an dieser
Figur als vollkommen anerkannt, die plastischen Gegensätze der Theile,
die Behandlung alles Einzelnen. Aber der Kopf will weder nach der
Schädelform noch nach der Physiognomie genügen und mit dem herr-
lich behandelten Bart, dem die alte Kunst nichts Ähnliches an die
Seite zu stellen hat, werden doch gar zu viele Umstände gemacht
der berühmte linke Arm hat im Grunde nichts anderes zu thun, als
diesen Bart an den Leib zu drücken. -- Rahel, das beschauliche
Leben, ist im Motiv ganz sinnlos; sie hat so eben auf dem Schemel
nach rechts gebetet und wendet sich plötzlich, noch immer betend,
nach links; zudem scheint ihr linker Arm schon oben verhauen. Das
Detail sonst trefflich. -- Lea, das thätige Leben, mit dem Spiegel
in der Hand, zeigt in der Draperie unnütze und bizarre Motive und
unschöne Verhältnisse der untern Theile. Die Köpfe haben wohl etwas
Grandios-Neutrales, Unpersönliches, welches die Seele wie ein Klang
aus der ältern griechischen Kunst berührt, aber auch eine gewisse
Kälte.

Ausser diesen drei Statuen hat Michelangelo offenbar in sehr
verschiedenen Zeiten eine Anzahl von nackten Figuren gemeisselt,
welche theils zum Grabmal Julius II wirklich gehören sollten, theils
wenigstens damit in Verbindung gebracht werden. Das trefflichste
sind die beiden "Sclaven" im Louvre, die offenbar Stücke aus der
Reihe jener Gefesselten sind. Weniger lässt sich dies verbürgen bei
den vier (nur theilweise aus dem Rohen gearbeiteten und beträcht-a
lich grössern) Statuen in einer Grotte des Gartens Boboli zu Flo-
renz (vom Eingang links); es sind höchst lebensvolle Acte des Leh-
nens und Tragens; die beiden vordern freilich kaum erst kenntlich
Dann eine Gruppe, betitelt "der Sieg", im grossen Saale des Palazzob
vecchio; ein Sieger auf einem (unvollendeten) Besiegten knieend,
und das während des Kampfes nach hinten gestreifte Gewand wieder
hervorziehend, mit einer Wendung und Bewegung, die freilich hie-
durch nur nothdürftig motivirt wird. (Spätere Zeit?)

Wir kehren wieder in seine frühere römische Epoche zurück und
nennen zunächst den Christus im Querschiff von S. Maria soprac

Grabmal Julius II.
lich übermenschlichen Bildung, als sie das charakteristische Leben
dieser Theile auf eine Weise gesteigert sehen lassen, die in der Wirk-
lichkeit nicht so vorkömmt. Alles bloss Künstlerische wird an dieser
Figur als vollkommen anerkannt, die plastischen Gegensätze der Theile,
die Behandlung alles Einzelnen. Aber der Kopf will weder nach der
Schädelform noch nach der Physiognomie genügen und mit dem herr-
lich behandelten Bart, dem die alte Kunst nichts Ähnliches an die
Seite zu stellen hat, werden doch gar zu viele Umstände gemacht
der berühmte linke Arm hat im Grunde nichts anderes zu thun, als
diesen Bart an den Leib zu drücken. — Rahel, das beschauliche
Leben, ist im Motiv ganz sinnlos; sie hat so eben auf dem Schemel
nach rechts gebetet und wendet sich plötzlich, noch immer betend,
nach links; zudem scheint ihr linker Arm schon oben verhauen. Das
Detail sonst trefflich. — Lea, das thätige Leben, mit dem Spiegel
in der Hand, zeigt in der Draperie unnütze und bizarre Motive und
unschöne Verhältnisse der untern Theile. Die Köpfe haben wohl etwas
Grandios-Neutrales, Unpersönliches, welches die Seele wie ein Klang
aus der ältern griechischen Kunst berührt, aber auch eine gewisse
Kälte.

Ausser diesen drei Statuen hat Michelangelo offenbar in sehr
verschiedenen Zeiten eine Anzahl von nackten Figuren gemeisselt,
welche theils zum Grabmal Julius II wirklich gehören sollten, theils
wenigstens damit in Verbindung gebracht werden. Das trefflichste
sind die beiden „Sclaven“ im Louvre, die offenbar Stücke aus der
Reihe jener Gefesselten sind. Weniger lässt sich dies verbürgen bei
den vier (nur theilweise aus dem Rohen gearbeiteten und beträcht-a
lich grössern) Statuen in einer Grotte des Gartens Boboli zu Flo-
renz (vom Eingang links); es sind höchst lebensvolle Acte des Leh-
nens und Tragens; die beiden vordern freilich kaum erst kenntlich
Dann eine Gruppe, betitelt „der Sieg“, im grossen Saale des Palazzob
vecchio; ein Sieger auf einem (unvollendeten) Besiegten knieend,
und das während des Kampfes nach hinten gestreifte Gewand wieder
hervorziehend, mit einer Wendung und Bewegung, die freilich hie-
durch nur nothdürftig motivirt wird. (Spätere Zeit?)

Wir kehren wieder in seine frühere römische Epoche zurück und
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[671/0693] Grabmal Julius II. lich übermenschlichen Bildung, als sie das charakteristische Leben dieser Theile auf eine Weise gesteigert sehen lassen, die in der Wirk- lichkeit nicht so vorkömmt. Alles bloss Künstlerische wird an dieser Figur als vollkommen anerkannt, die plastischen Gegensätze der Theile, die Behandlung alles Einzelnen. Aber der Kopf will weder nach der Schädelform noch nach der Physiognomie genügen und mit dem herr- lich behandelten Bart, dem die alte Kunst nichts Ähnliches an die Seite zu stellen hat, werden doch gar zu viele Umstände gemacht der berühmte linke Arm hat im Grunde nichts anderes zu thun, als diesen Bart an den Leib zu drücken. — Rahel, das beschauliche Leben, ist im Motiv ganz sinnlos; sie hat so eben auf dem Schemel nach rechts gebetet und wendet sich plötzlich, noch immer betend, nach links; zudem scheint ihr linker Arm schon oben verhauen. Das Detail sonst trefflich. — Lea, das thätige Leben, mit dem Spiegel in der Hand, zeigt in der Draperie unnütze und bizarre Motive und unschöne Verhältnisse der untern Theile. Die Köpfe haben wohl etwas Grandios-Neutrales, Unpersönliches, welches die Seele wie ein Klang aus der ältern griechischen Kunst berührt, aber auch eine gewisse Kälte. Ausser diesen drei Statuen hat Michelangelo offenbar in sehr verschiedenen Zeiten eine Anzahl von nackten Figuren gemeisselt, welche theils zum Grabmal Julius II wirklich gehören sollten, theils wenigstens damit in Verbindung gebracht werden. Das trefflichste sind die beiden „Sclaven“ im Louvre, die offenbar Stücke aus der Reihe jener Gefesselten sind. Weniger lässt sich dies verbürgen bei den vier (nur theilweise aus dem Rohen gearbeiteten und beträcht- lich grössern) Statuen in einer Grotte des Gartens Boboli zu Flo- renz (vom Eingang links); es sind höchst lebensvolle Acte des Leh- nens und Tragens; die beiden vordern freilich kaum erst kenntlich Dann eine Gruppe, betitelt „der Sieg“, im grossen Saale des Palazzo vecchio; ein Sieger auf einem (unvollendeten) Besiegten knieend, und das während des Kampfes nach hinten gestreifte Gewand wieder hervorziehend, mit einer Wendung und Bewegung, die freilich hie- durch nur nothdürftig motivirt wird. (Spätere Zeit?) a b Wir kehren wieder in seine frühere römische Epoche zurück und nennen zunächst den Christus im Querschiff von S. Maria sopra c

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 671. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/693>, abgerufen am 16.07.2024.