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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Sculptur des XVI. Jahrhunderts. Reliefs im Santo.
Ursache, nämlich dem Machtwort, dem Dasein, dem Gebet, höchstens
dem Gestus des Heiligen. Für die andächtige Menge, welche diese
Stätte besucht und die Stirn an die Rückseite des Heiligensarges zu
drücken pflegt, ist allerdings über diesen Causalzusammenhang kein
Zweifel vorhanden; sie verstand und versteht diese Reliefs, die für sie
geschaffen sind, vollkommen, würde aber vielleicht doch bemalte Thon-
gruppen in der Art Mazzoni's (S. 635) noch sprechender finden, als
den idealen Styl, durch welchen die Künstler mit namenloser Anstren-
gung diese Historien veredelt haben.

Die allmählige Bestellung und Ausführung hat in geschichtlicher
Beziehung einiges Dunkle. Jedenfalls wollten die Besteller von allem
Anfang an nur Grosses und Bedeutendes. Wenn das erste Relief
a(die Aufnahme des Heiligen in den Orden), von Antonio Minelli,
in der That schon 1512 gearbeitet ist, so hätte man sich gleich zuerst
an einen vorzüglichen wahrscheinlich florentinischen Mitstrebenden des
ältern Andrea Sansovino gewandt; es ist eines der edelsten und ge-
niessbarsten der ganzen Reihe. Um dieselbe Zeit scheinen -- mit
Übergehung des Riccio und seiner localen Schule -- die Brüder An-
tonio
und Tullio Lombardi, wahrscheinlich als alte und aner-
kannte Häupter der venezianischen Sculptur in Anspruch genommen
bworden zu sein; sie lieferten das sechste, siebente und neunte Relief
(vgl. S. 627, c, d) und gaben wahrscheinlich die architektonischen Hinter-
gründe mit Stadtansichten auch für alle übrigen an. (Diess ist zu ver-
muthen nach Tullio's Relief an der Scuola di S. Marco.) Auf dem
sechsten steht die Jahrzahl 1525.

Darauf trat Jacopo Sansovino mit mehrern seiner Schüler
cein. Sein eigenes Relief, das vierte (Wiedererweckung der Selbst-
mörderin) ist auffallend manierirt; welche Epoche seines Lebens dafür
verantwortlich sein mag, ist schwer zu sagen; ein Schüler Andrea's
hätte überhaupt nie solche Körper und Köpfe bilden dürfen, wie hier
dmehrere vorkommen. Dagegen ist Campagna im dritten Relief (Er-
weckung des todten Jünglings) auf seiner vollen Höhe; die nackte
Halbfigur höchst edel gebildet und entwickelt, die Linien des Ganzen
harmonisch, alles Einzelne sehr gediegen. -- Einen andern schon mehr
emanierirten Schüler Jacopo S.'s erkennt man dann im zweiten Relief
(Ermordung der Frau), welches einem gew. Paolo Stella oder Giov.

Sculptur des XVI. Jahrhunderts. Reliefs im Santo.
Ursache, nämlich dem Machtwort, dem Dasein, dem Gebet, höchstens
dem Gestus des Heiligen. Für die andächtige Menge, welche diese
Stätte besucht und die Stirn an die Rückseite des Heiligensarges zu
drücken pflegt, ist allerdings über diesen Causalzusammenhang kein
Zweifel vorhanden; sie verstand und versteht diese Reliefs, die für sie
geschaffen sind, vollkommen, würde aber vielleicht doch bemalte Thon-
gruppen in der Art Mazzoni’s (S. 635) noch sprechender finden, als
den idealen Styl, durch welchen die Künstler mit namenloser Anstren-
gung diese Historien veredelt haben.

Die allmählige Bestellung und Ausführung hat in geschichtlicher
Beziehung einiges Dunkle. Jedenfalls wollten die Besteller von allem
Anfang an nur Grosses und Bedeutendes. Wenn das erste Relief
a(die Aufnahme des Heiligen in den Orden), von Antonio Minelli,
in der That schon 1512 gearbeitet ist, so hätte man sich gleich zuerst
an einen vorzüglichen wahrscheinlich florentinischen Mitstrebenden des
ältern Andrea Sansovino gewandt; es ist eines der edelsten und ge-
niessbarsten der ganzen Reihe. Um dieselbe Zeit scheinen — mit
Übergehung des Riccio und seiner localen Schule — die Brüder An-
tonio
und Tullio Lombardi, wahrscheinlich als alte und aner-
kannte Häupter der venezianischen Sculptur in Anspruch genommen
bworden zu sein; sie lieferten das sechste, siebente und neunte Relief
(vgl. S. 627, c, d) und gaben wahrscheinlich die architektonischen Hinter-
gründe mit Stadtansichten auch für alle übrigen an. (Diess ist zu ver-
muthen nach Tullio’s Relief an der Scuola di S. Marco.) Auf dem
sechsten steht die Jahrzahl 1525.

Darauf trat Jacopo Sansovino mit mehrern seiner Schüler
cein. Sein eigenes Relief, das vierte (Wiedererweckung der Selbst-
mörderin) ist auffallend manierirt; welche Epoche seines Lebens dafür
verantwortlich sein mag, ist schwer zu sagen; ein Schüler Andrea’s
hätte überhaupt nie solche Körper und Köpfe bilden dürfen, wie hier
dmehrere vorkommen. Dagegen ist Campagna im dritten Relief (Er-
weckung des todten Jünglings) auf seiner vollen Höhe; die nackte
Halbfigur höchst edel gebildet und entwickelt, die Linien des Ganzen
harmonisch, alles Einzelne sehr gediegen. — Einen andern schon mehr
emanierirten Schüler Jacopo S.’s erkennt man dann im zweiten Relief
(Ermordung der Frau), welches einem gew. Paolo Stella oder Giov.

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[662/0684] Sculptur des XVI. Jahrhunderts. Reliefs im Santo. Ursache, nämlich dem Machtwort, dem Dasein, dem Gebet, höchstens dem Gestus des Heiligen. Für die andächtige Menge, welche diese Stätte besucht und die Stirn an die Rückseite des Heiligensarges zu drücken pflegt, ist allerdings über diesen Causalzusammenhang kein Zweifel vorhanden; sie verstand und versteht diese Reliefs, die für sie geschaffen sind, vollkommen, würde aber vielleicht doch bemalte Thon- gruppen in der Art Mazzoni’s (S. 635) noch sprechender finden, als den idealen Styl, durch welchen die Künstler mit namenloser Anstren- gung diese Historien veredelt haben. Die allmählige Bestellung und Ausführung hat in geschichtlicher Beziehung einiges Dunkle. Jedenfalls wollten die Besteller von allem Anfang an nur Grosses und Bedeutendes. Wenn das erste Relief (die Aufnahme des Heiligen in den Orden), von Antonio Minelli, in der That schon 1512 gearbeitet ist, so hätte man sich gleich zuerst an einen vorzüglichen wahrscheinlich florentinischen Mitstrebenden des ältern Andrea Sansovino gewandt; es ist eines der edelsten und ge- niessbarsten der ganzen Reihe. Um dieselbe Zeit scheinen — mit Übergehung des Riccio und seiner localen Schule — die Brüder An- tonio und Tullio Lombardi, wahrscheinlich als alte und aner- kannte Häupter der venezianischen Sculptur in Anspruch genommen worden zu sein; sie lieferten das sechste, siebente und neunte Relief (vgl. S. 627, c, d) und gaben wahrscheinlich die architektonischen Hinter- gründe mit Stadtansichten auch für alle übrigen an. (Diess ist zu ver- muthen nach Tullio’s Relief an der Scuola di S. Marco.) Auf dem sechsten steht die Jahrzahl 1525. a b Darauf trat Jacopo Sansovino mit mehrern seiner Schüler ein. Sein eigenes Relief, das vierte (Wiedererweckung der Selbst- mörderin) ist auffallend manierirt; welche Epoche seines Lebens dafür verantwortlich sein mag, ist schwer zu sagen; ein Schüler Andrea’s hätte überhaupt nie solche Körper und Köpfe bilden dürfen, wie hier mehrere vorkommen. Dagegen ist Campagna im dritten Relief (Er- weckung des todten Jünglings) auf seiner vollen Höhe; die nackte Halbfigur höchst edel gebildet und entwickelt, die Linien des Ganzen harmonisch, alles Einzelne sehr gediegen. — Einen andern schon mehr manierirten Schüler Jacopo S.’s erkennt man dann im zweiten Relief (Ermordung der Frau), welches einem gew. Paolo Stella oder Giov. c d e

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 662. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/684>, abgerufen am 18.12.2024.