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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Sculptur des XV. Jahrhunderts.
[Abbildung]

Mit dem XV. Jahrhundert erwacht in der Sculptur derselbe Trieb
wie in der Malerei (bei welcher umständlicher davon gehandelt wer-
den wird), die äussere Erscheinung der Dinge allseitig darzustellen,
der Realismus. Auch die Sculptur glaubt in dem Einzelnen, Vie-
len, Wirklichen eine neue Welt von Aufgaben und Anregungen ge-
funden zu haben. Es zeigt sich, dass das Bewusstsein der höhern
plastischen Gesetze, wie es sich in den Werken des XIV. Jahrhun-
derts offenbart, doch nur eine glückliche Ahnung gewesen war; jetzt
taucht es fast für hundert Jahre wieder unter, oder verdunkelt sich
doch beträchtlich. Die Einfachheit alles Äusserlichen (besonders der
Gewandung), welche hier für die ungestörte Wirkung der Linien so
wesentlich ist, weicht einer bunten und oft verwirrenden Ausdrucks-
weise und einem mühsam reichen Faltenwurf; Stellung und Anord-
nung werden dem Ausdruck des Charakters und des Momentes in
einer bisher unerhörten Weise unterthan, oft weit über die Grenzen
aller Plastik hinaus. Aber Ernst und Ehrlichkeit und ein nur theil-
weise verirrter, aber stets von Neuem andringender Schönheitssinn
hüten die Sculptur vor dem wüst Naturalistischen; ihre Charakter-
darstellung versöhnt sich gegen den Schluss des Jahrhunderts hin
wieder mehr und mehr mit dem Schönen; es ebnen sich die Wege
für Sansovino und Michelangelo.

Das Relief aber musste dem Realismus bleibend zum Opfer
fallen. Sollte es in Darstellung der Breite des Lebens mit der Ma-
lerei concurriren, so war kein anderer Ausweg: es wurde zum Ge-
mälde in Stein oder Erz. Bei mehrern Künstlern, zumal bei den Rob-
bia, schimmert das richtige Bewusstsein von dem, was das Relief soll,

Sculptur des XV. Jahrhunderts.
[Abbildung]

Mit dem XV. Jahrhundert erwacht in der Sculptur derselbe Trieb
wie in der Malerei (bei welcher umständlicher davon gehandelt wer-
den wird), die äussere Erscheinung der Dinge allseitig darzustellen,
der Realismus. Auch die Sculptur glaubt in dem Einzelnen, Vie-
len, Wirklichen eine neue Welt von Aufgaben und Anregungen ge-
funden zu haben. Es zeigt sich, dass das Bewusstsein der höhern
plastischen Gesetze, wie es sich in den Werken des XIV. Jahrhun-
derts offenbart, doch nur eine glückliche Ahnung gewesen war; jetzt
taucht es fast für hundert Jahre wieder unter, oder verdunkelt sich
doch beträchtlich. Die Einfachheit alles Äusserlichen (besonders der
Gewandung), welche hier für die ungestörte Wirkung der Linien so
wesentlich ist, weicht einer bunten und oft verwirrenden Ausdrucks-
weise und einem mühsam reichen Faltenwurf; Stellung und Anord-
nung werden dem Ausdruck des Charakters und des Momentes in
einer bisher unerhörten Weise unterthan, oft weit über die Grenzen
aller Plastik hinaus. Aber Ernst und Ehrlichkeit und ein nur theil-
weise verirrter, aber stets von Neuem andringender Schönheitssinn
hüten die Sculptur vor dem wüst Naturalistischen; ihre Charakter-
darstellung versöhnt sich gegen den Schluss des Jahrhunderts hin
wieder mehr und mehr mit dem Schönen; es ebnen sich die Wege
für Sansovino und Michelangelo.

Das Relief aber musste dem Realismus bleibend zum Opfer
fallen. Sollte es in Darstellung der Breite des Lebens mit der Ma-
lerei concurriren, so war kein anderer Ausweg: es wurde zum Ge-
mälde in Stein oder Erz. Bei mehrern Künstlern, zumal bei den Rob-
bia, schimmert das richtige Bewusstsein von dem, was das Relief soll,

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[585/0607] Sculptur des XV. Jahrhunderts. [Abbildung] Mit dem XV. Jahrhundert erwacht in der Sculptur derselbe Trieb wie in der Malerei (bei welcher umständlicher davon gehandelt wer- den wird), die äussere Erscheinung der Dinge allseitig darzustellen, der Realismus. Auch die Sculptur glaubt in dem Einzelnen, Vie- len, Wirklichen eine neue Welt von Aufgaben und Anregungen ge- funden zu haben. Es zeigt sich, dass das Bewusstsein der höhern plastischen Gesetze, wie es sich in den Werken des XIV. Jahrhun- derts offenbart, doch nur eine glückliche Ahnung gewesen war; jetzt taucht es fast für hundert Jahre wieder unter, oder verdunkelt sich doch beträchtlich. Die Einfachheit alles Äusserlichen (besonders der Gewandung), welche hier für die ungestörte Wirkung der Linien so wesentlich ist, weicht einer bunten und oft verwirrenden Ausdrucks- weise und einem mühsam reichen Faltenwurf; Stellung und Anord- nung werden dem Ausdruck des Charakters und des Momentes in einer bisher unerhörten Weise unterthan, oft weit über die Grenzen aller Plastik hinaus. Aber Ernst und Ehrlichkeit und ein nur theil- weise verirrter, aber stets von Neuem andringender Schönheitssinn hüten die Sculptur vor dem wüst Naturalistischen; ihre Charakter- darstellung versöhnt sich gegen den Schluss des Jahrhunderts hin wieder mehr und mehr mit dem Schönen; es ebnen sich die Wege für Sansovino und Michelangelo. Das Relief aber musste dem Realismus bleibend zum Opfer fallen. Sollte es in Darstellung der Breite des Lebens mit der Ma- lerei concurriren, so war kein anderer Ausweg: es wurde zum Ge- mälde in Stein oder Erz. Bei mehrern Künstlern, zumal bei den Rob- bia, schimmert das richtige Bewusstsein von dem, was das Relief soll,

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 585. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/607>, abgerufen am 18.12.2024.