von Propheten und Engeln, diese Apostelgestalten für die gegebe- nen Räume geistvoller zu componiren.
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Keine andere Schöpfung bezeichnet aber die Sinnesweise Gio- vanni's deutlicher als die Kanzel in S. Andrea zu Pistoja (1301), ein kleines Werk, doch überquellend von geistigem Reichthum, der die formale Überladung vergessen lässt. In den Reliefs ist die Klage der Mütter von Bethlehem, die Gruppe der Frauen unter dem Kreuz in ihrer Art unvergleichlich; von den Eckstatuetten geben die Si- byllen, tief erregt von den Einflüsterungen der sie begleitenden Engel, das Höhenmass des Ausdruckes, welcher dem grossen Meister zu Ge- bote stand. Die anatomische Schärfe des Nackten zeigt allerdings u. A., dass sein Ziel ein einseitiges war. -- Immerhin möchte diese Kanzel sein reifstes Werk und z. B. derjenigen im Dom von Siena, welche ähnliche Motive unsicherer durchführt, weit vorzuziehen sein.
Es folgt das schon bei den Decorationsarbeiten erwähnte Grab- bmal Benedicts XI. (+ 1304) in S. Domenico zu Perugia, mit der edeln liegenden Statue des Verstorbenen; auch die den Vorhang ziehenden Engel in ihrem lebendigen Schreiten sind vortrefflich; die obern Statuetten schon mehr conventionell.
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Das letzte grössere Werk (1311), die Kanzel im Dom von Pisa, wurde später auseinandergenommen; die einzigen sichtbaren Stücke findet man eingemauert theils noch an der Kanzel selbst (man beachte auch die beiden Löwen), theils auf einer der obern Galerien des Do- dmes. (Die sechs Reliefs über den Thronen im Chor, von welchen man die beiden mittlern für Giovanni's Werk halten könnte, sind von spätern Künstlern der Schule.) Ein Übergang in das Gesuchte und Manierirte ist hier im Ganzen nicht zu verkennen; die Eckfiguren haben schon etwas gewaltsam Interessantes, worin auch die kenntliche Verwandtschaft Giovanni's mit Michelangelo liegt.
Noch in seiner Blüthezeit aber hat Giovanni in der Madonna ezwischen zwei Engeln (Lunette der zweiten Südthür am Dom von Florenz) den Typus der Himmelskönigin so festgestellt, wie er von der ganzen Sculptur des germanischen Styles reproducirt werden konnte. Es ist eine schöne und reiche Bildung, eine Fürstin, grandios einfach gehalten, aber ohne irgend einen besondern Zug schwärmerischer In- nigkeit. Sonst geht Giovanni, auch wo er ruhig bleibt, nicht auf
Germanische Sculptur. Giov. Pisano.
von Propheten und Engeln, diese Apostelgestalten für die gegebe- nen Räume geistvoller zu componiren.
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Keine andere Schöpfung bezeichnet aber die Sinnesweise Gio- vanni’s deutlicher als die Kanzel in S. Andrea zu Pistoja (1301), ein kleines Werk, doch überquellend von geistigem Reichthum, der die formale Überladung vergessen lässt. In den Reliefs ist die Klage der Mütter von Bethlehem, die Gruppe der Frauen unter dem Kreuz in ihrer Art unvergleichlich; von den Eckstatuetten geben die Si- byllen, tief erregt von den Einflüsterungen der sie begleitenden Engel, das Höhenmass des Ausdruckes, welcher dem grossen Meister zu Ge- bote stand. Die anatomische Schärfe des Nackten zeigt allerdings u. A., dass sein Ziel ein einseitiges war. — Immerhin möchte diese Kanzel sein reifstes Werk und z. B. derjenigen im Dom von Siena, welche ähnliche Motive unsicherer durchführt, weit vorzuziehen sein.
Es folgt das schon bei den Decorationsarbeiten erwähnte Grab- bmal Benedicts XI. († 1304) in S. Domenico zu Perugia, mit der edeln liegenden Statue des Verstorbenen; auch die den Vorhang ziehenden Engel in ihrem lebendigen Schreiten sind vortrefflich; die obern Statuetten schon mehr conventionell.
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Das letzte grössere Werk (1311), die Kanzel im Dom von Pisa, wurde später auseinandergenommen; die einzigen sichtbaren Stücke findet man eingemauert theils noch an der Kanzel selbst (man beachte auch die beiden Löwen), theils auf einer der obern Galerien des Do- dmes. (Die sechs Reliefs über den Thronen im Chor, von welchen man die beiden mittlern für Giovanni’s Werk halten könnte, sind von spätern Künstlern der Schule.) Ein Übergang in das Gesuchte und Manierirte ist hier im Ganzen nicht zu verkennen; die Eckfiguren haben schon etwas gewaltsam Interessantes, worin auch die kenntliche Verwandtschaft Giovanni’s mit Michelangelo liegt.
Noch in seiner Blüthezeit aber hat Giovanni in der Madonna ezwischen zwei Engeln (Lunette der zweiten Südthür am Dom von Florenz) den Typus der Himmelskönigin so festgestellt, wie er von der ganzen Sculptur des germanischen Styles reproducirt werden konnte. Es ist eine schöne und reiche Bildung, eine Fürstin, grandios einfach gehalten, aber ohne irgend einen besondern Zug schwärmerischer In- nigkeit. Sonst geht Giovanni, auch wo er ruhig bleibt, nicht auf
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Germanische Sculptur. Giov. Pisano.
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nen Räume geistvoller zu componiren.
Keine andere Schöpfung bezeichnet aber die Sinnesweise Gio-
vanni’s deutlicher als die Kanzel in S. Andrea zu Pistoja (1301),
ein kleines Werk, doch überquellend von geistigem Reichthum, der
die formale Überladung vergessen lässt. In den Reliefs ist die Klage
der Mütter von Bethlehem, die Gruppe der Frauen unter dem Kreuz
in ihrer Art unvergleichlich; von den Eckstatuetten geben die Si-
byllen, tief erregt von den Einflüsterungen der sie begleitenden Engel,
das Höhenmass des Ausdruckes, welcher dem grossen Meister zu Ge-
bote stand. Die anatomische Schärfe des Nackten zeigt allerdings
u. A., dass sein Ziel ein einseitiges war. — Immerhin möchte diese
Kanzel sein reifstes Werk und z. B. derjenigen im Dom von Siena,
welche ähnliche Motive unsicherer durchführt, weit vorzuziehen sein.
Es folgt das schon bei den Decorationsarbeiten erwähnte Grab-
mal Benedicts XI. († 1304) in S. Domenico zu Perugia, mit der
edeln liegenden Statue des Verstorbenen; auch die den Vorhang
ziehenden Engel in ihrem lebendigen Schreiten sind vortrefflich; die
obern Statuetten schon mehr conventionell.
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Das letzte grössere Werk (1311), die Kanzel im Dom von Pisa,
wurde später auseinandergenommen; die einzigen sichtbaren Stücke
findet man eingemauert theils noch an der Kanzel selbst (man beachte
auch die beiden Löwen), theils auf einer der obern Galerien des Do-
mes. (Die sechs Reliefs über den Thronen im Chor, von welchen
man die beiden mittlern für Giovanni’s Werk halten könnte, sind von
spätern Künstlern der Schule.) Ein Übergang in das Gesuchte und
Manierirte ist hier im Ganzen nicht zu verkennen; die Eckfiguren
haben schon etwas gewaltsam Interessantes, worin auch die kenntliche
Verwandtschaft Giovanni’s mit Michelangelo liegt.
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Noch in seiner Blüthezeit aber hat Giovanni in der Madonna
zwischen zwei Engeln (Lunette der zweiten Südthür am Dom von
Florenz) den Typus der Himmelskönigin so festgestellt, wie er von
der ganzen Sculptur des germanischen Styles reproducirt werden konnte.
Es ist eine schöne und reiche Bildung, eine Fürstin, grandios einfach
gehalten, aber ohne irgend einen besondern Zug schwärmerischer In-
nigkeit. Sonst geht Giovanni, auch wo er ruhig bleibt, nicht auf
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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 568. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/590>, abgerufen am 16.06.2024.
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