Es hatte sich seit der ersten Hälfte des XIII. Jahrhunderts im Norden derjenige Styl gebildet, welchen man gegenwärtig wegen sei- nes innern Zusammenhanges und gleichzeitigen Entstehens mit der germanischen oder gothischen Baukunst den germanischen nennt. Im Wesentlichen ist er eine Umbildung des bisherigen romanischen nach strengern architektonischen Principien; die Sculptur wird von der übermächtig gewordenen Baukunst in die Schule genommen und auf ganz bestimmte Functionen, auf gegebene Räume angewiesen. Eine germanische Statue ist so zu sagen unvollständig ohne die Ni- sche, für welche sie gedacht ist. Sie hat mit ihrer geradlinigen Ein- fassung zu contrastiren durch ausgeschwungene Stellung; sie hat mit der Gliederung, der Schattenwirkung derselben zu wetteifern durch kräftigen und selbst scharfen Faltenwurf, überhaupt durch bestimmte Fassung ohne weiche Zerflossenheit. Was ihr von Schönheit und Ausdruck gegeben werden kann, concentrirt sich im Angesicht. Eine vollständige und allseitige Durchbildung war hiebei zwecklos, sogar unmöglich; doch hinderte diess nicht das Entstehen einer Anzahl Sculpturen vom höchsten relativen Werthe, wie z. B. diejenigen aus dem XIII. Jahrhundert an der Liebfrauenkirche zu Trier, am Strass- burger Münster, in der Vorhalle des Münsters zu Freiburg etc.
Von diesen Werken scheint nun der Sohn des Niccolo, Gio- vanni Pisano, den wir schon nebst dem Vater als Architekten kennen, angeregt worden zu sein, entweder durch einen Aufenthalt in Deutschland oder durch herübergekommene deutsche Künstler 1).
Allein die italienische Baukunst machte der nordischen im Ganzen gerade diejenigen Zierformen nicht nach, welche im Norden die Um- bildung in den germanischen Sculpturstyl motivirt hatten; und so war auch die Aneignung des letztern selbst eine zwar kenntliche, aber doch freie. Das Vorbild hätte auch lange nicht ausgereicht; Giovanni's Hauptgattung war, wie wir sehen werden, das reiche und bewegte Relief, das gerade im Norden nur ausnahmsweise zu einer solchen Anwendung gelangte. Bald darauf ging es in der Malerei ähnlich;
1) Deren (laut Vasari) eine Anzahl in seiner Nähe waren.
Germanische Sculptur. Giovanni Pisano.
Es hatte sich seit der ersten Hälfte des XIII. Jahrhunderts im Norden derjenige Styl gebildet, welchen man gegenwärtig wegen sei- nes innern Zusammenhanges und gleichzeitigen Entstehens mit der germanischen oder gothischen Baukunst den germanischen nennt. Im Wesentlichen ist er eine Umbildung des bisherigen romanischen nach strengern architektonischen Principien; die Sculptur wird von der übermächtig gewordenen Baukunst in die Schule genommen und auf ganz bestimmte Functionen, auf gegebene Räume angewiesen. Eine germanische Statue ist so zu sagen unvollständig ohne die Ni- sche, für welche sie gedacht ist. Sie hat mit ihrer geradlinigen Ein- fassung zu contrastiren durch ausgeschwungene Stellung; sie hat mit der Gliederung, der Schattenwirkung derselben zu wetteifern durch kräftigen und selbst scharfen Faltenwurf, überhaupt durch bestimmte Fassung ohne weiche Zerflossenheit. Was ihr von Schönheit und Ausdruck gegeben werden kann, concentrirt sich im Angesicht. Eine vollständige und allseitige Durchbildung war hiebei zwecklos, sogar unmöglich; doch hinderte diess nicht das Entstehen einer Anzahl Sculpturen vom höchsten relativen Werthe, wie z. B. diejenigen aus dem XIII. Jahrhundert an der Liebfrauenkirche zu Trier, am Strass- burger Münster, in der Vorhalle des Münsters zu Freiburg etc.
Von diesen Werken scheint nun der Sohn des Niccolò, Gio- vanni Pisano, den wir schon nebst dem Vater als Architekten kennen, angeregt worden zu sein, entweder durch einen Aufenthalt in Deutschland oder durch herübergekommene deutsche Künstler 1).
Allein die italienische Baukunst machte der nordischen im Ganzen gerade diejenigen Zierformen nicht nach, welche im Norden die Um- bildung in den germanischen Sculpturstyl motivirt hatten; und so war auch die Aneignung des letztern selbst eine zwar kenntliche, aber doch freie. Das Vorbild hätte auch lange nicht ausgereicht; Giovanni’s Hauptgattung war, wie wir sehen werden, das reiche und bewegte Relief, das gerade im Norden nur ausnahmsweise zu einer solchen Anwendung gelangte. Bald darauf ging es in der Malerei ähnlich;
1) Deren (laut Vasari) eine Anzahl in seiner Nähe waren.
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Germanische Sculptur. Giovanni Pisano.
Es hatte sich seit der ersten Hälfte des XIII. Jahrhunderts im
Norden derjenige Styl gebildet, welchen man gegenwärtig wegen sei-
nes innern Zusammenhanges und gleichzeitigen Entstehens mit der
germanischen oder gothischen Baukunst den germanischen nennt.
Im Wesentlichen ist er eine Umbildung des bisherigen romanischen
nach strengern architektonischen Principien; die Sculptur wird von
der übermächtig gewordenen Baukunst in die Schule genommen und
auf ganz bestimmte Functionen, auf gegebene Räume angewiesen.
Eine germanische Statue ist so zu sagen unvollständig ohne die Ni-
sche, für welche sie gedacht ist. Sie hat mit ihrer geradlinigen Ein-
fassung zu contrastiren durch ausgeschwungene Stellung; sie hat mit
der Gliederung, der Schattenwirkung derselben zu wetteifern durch
kräftigen und selbst scharfen Faltenwurf, überhaupt durch bestimmte
Fassung ohne weiche Zerflossenheit. Was ihr von Schönheit und
Ausdruck gegeben werden kann, concentrirt sich im Angesicht. Eine
vollständige und allseitige Durchbildung war hiebei zwecklos, sogar
unmöglich; doch hinderte diess nicht das Entstehen einer Anzahl
Sculpturen vom höchsten relativen Werthe, wie z. B. diejenigen aus
dem XIII. Jahrhundert an der Liebfrauenkirche zu Trier, am Strass-
burger Münster, in der Vorhalle des Münsters zu Freiburg etc.
Von diesen Werken scheint nun der Sohn des Niccolò, Gio-
vanni Pisano, den wir schon nebst dem Vater als Architekten
kennen, angeregt worden zu sein, entweder durch einen Aufenthalt in
Deutschland oder durch herübergekommene deutsche Künstler 1).
Allein die italienische Baukunst machte der nordischen im Ganzen
gerade diejenigen Zierformen nicht nach, welche im Norden die Um-
bildung in den germanischen Sculpturstyl motivirt hatten; und so war
auch die Aneignung des letztern selbst eine zwar kenntliche, aber doch
freie. Das Vorbild hätte auch lange nicht ausgereicht; Giovanni’s
Hauptgattung war, wie wir sehen werden, das reiche und bewegte
Relief, das gerade im Norden nur ausnahmsweise zu einer solchen
Anwendung gelangte. Bald darauf ging es in der Malerei ähnlich;
1) Deren (laut Vasari) eine Anzahl in seiner Nähe waren.
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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 566. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/588>, abgerufen am 16.07.2024.
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