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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Antike Sculptur. Statuen berühmter Griechen.
haus der Villa Albani. -- Um so sicherer ist mit einer verstümmelten
aStatue, in einem obern Zimmer des Palastes dieser Villa, Aesop ge-
meint; ein concentrirter Idealtypus des geistvollen Buckligen, nackt
und in seiner Art meisterhaft gebildet.

Sehr ausgezeichnet durch den innern Ausdruck mühsam errunge-
bner rednerischer Grösse: der Demosthenes im Braccio nuovo des
Vaticans1); -- von dem ebendort befindlichen Euripides gehört der
Kopf wirklich diesem Dichter und der Rumpf jedenfalls einem be-
rühmten Griechen, beides aber hing nicht ursprünglich zusammen. --
Ebendort noch ein namenloser Philosoph.

c

Zeno der Stoiker, im Museo capitolino (Zimmer des sterbenden
Fechters); kurzer Hals, strammer Schritt, starke Brust, angezogener
Mantel, heftige Züge -- ein wahres Specimen griechischer Charakte-
ristik, die den ganzen Mann in lauter Charakter zu verwandeln wusste
(die Benennung sehr unsicher). -- Bei diesem und den zunächst vor-
her Genannten kann man sich, beiläufig gesagt, überzeugen, dass
schon die Griechen, und sie gerade am Bewusstesten, an gewissen
Bildnissstatuen eine Idealtracht darstellten. Man würde sehr irren,
wenn man glaubte, Euripides und Demosthenes seien wirklich halb-
nackt in den Gassen von Athen herumgegangen. Allein diese Ideal-
tracht ist eine vereinfachte wirkliche, es ist der Mantel ohne das
Unterkleid. Und nicht jede Tracht lässt sich so vereinfachen! mit der
unsrigen wollen wir nicht einmal zum Versuche rathen.

Unter den sitzenden, meist ganz bekleideten Statuen nehmen
ddie beiden Komödiendichter im Vatican (Galeria delle Statue): Me-
nander
und Posidippus eine bedeutende Stelle ein; zumal der
Erstere, der in Stellung und Miene so fein philiströs, so ernst und
gemüthlich erscheint; je nach den Umständen wird er als Buffone
oder als hohe geistige Macht auftreten.

e

Im Palast Spada zu Rom (erster unterer Saal): Aristoteles,
horchend, nachdenkend, mit scharfen, grämlichen, ehemals schönen
Zügen (die Augen ungleich); Stellung und Gewand ganz anspruchlos.
Die Benennung gilt für sicher.

1) Statt der Rolle in den Händen richtiger mit verschränkten Fingern zu re-
stauriren. [Br.]

Antike Sculptur. Statuen berühmter Griechen.
haus der Villa Albani. — Um so sicherer ist mit einer verstümmelten
aStatue, in einem obern Zimmer des Palastes dieser Villa, Aesop ge-
meint; ein concentrirter Idealtypus des geistvollen Buckligen, nackt
und in seiner Art meisterhaft gebildet.

Sehr ausgezeichnet durch den innern Ausdruck mühsam errunge-
bner rednerischer Grösse: der Demosthenes im Braccio nuovo des
Vaticans1); — von dem ebendort befindlichen Euripides gehört der
Kopf wirklich diesem Dichter und der Rumpf jedenfalls einem be-
rühmten Griechen, beides aber hing nicht ursprünglich zusammen. —
Ebendort noch ein namenloser Philosoph.

c

Zeno der Stoiker, im Museo capitolino (Zimmer des sterbenden
Fechters); kurzer Hals, strammer Schritt, starke Brust, angezogener
Mantel, heftige Züge — ein wahres Specimen griechischer Charakte-
ristik, die den ganzen Mann in lauter Charakter zu verwandeln wusste
(die Benennung sehr unsicher). — Bei diesem und den zunächst vor-
her Genannten kann man sich, beiläufig gesagt, überzeugen, dass
schon die Griechen, und sie gerade am Bewusstesten, an gewissen
Bildnissstatuen eine Idealtracht darstellten. Man würde sehr irren,
wenn man glaubte, Euripides und Demosthenes seien wirklich halb-
nackt in den Gassen von Athen herumgegangen. Allein diese Ideal-
tracht ist eine vereinfachte wirkliche, es ist der Mantel ohne das
Unterkleid. Und nicht jede Tracht lässt sich so vereinfachen! mit der
unsrigen wollen wir nicht einmal zum Versuche rathen.

Unter den sitzenden, meist ganz bekleideten Statuen nehmen
ddie beiden Komödiendichter im Vatican (Galeria delle Statue): Me-
nander
und Posidippus eine bedeutende Stelle ein; zumal der
Erstere, der in Stellung und Miene so fein philiströs, so ernst und
gemüthlich erscheint; je nach den Umständen wird er als Buffone
oder als hohe geistige Macht auftreten.

e

Im Palast Spada zu Rom (erster unterer Saal): Aristoteles,
horchend, nachdenkend, mit scharfen, grämlichen, ehemals schönen
Zügen (die Augen ungleich); Stellung und Gewand ganz anspruchlos.
Die Benennung gilt für sicher.

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stauriren. [Br.]
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[510/0532] Antike Sculptur. Statuen berühmter Griechen. haus der Villa Albani. — Um so sicherer ist mit einer verstümmelten Statue, in einem obern Zimmer des Palastes dieser Villa, Aesop ge- meint; ein concentrirter Idealtypus des geistvollen Buckligen, nackt und in seiner Art meisterhaft gebildet. a Sehr ausgezeichnet durch den innern Ausdruck mühsam errunge- ner rednerischer Grösse: der Demosthenes im Braccio nuovo des Vaticans 1); — von dem ebendort befindlichen Euripides gehört der Kopf wirklich diesem Dichter und der Rumpf jedenfalls einem be- rühmten Griechen, beides aber hing nicht ursprünglich zusammen. — Ebendort noch ein namenloser Philosoph. b Zeno der Stoiker, im Museo capitolino (Zimmer des sterbenden Fechters); kurzer Hals, strammer Schritt, starke Brust, angezogener Mantel, heftige Züge — ein wahres Specimen griechischer Charakte- ristik, die den ganzen Mann in lauter Charakter zu verwandeln wusste (die Benennung sehr unsicher). — Bei diesem und den zunächst vor- her Genannten kann man sich, beiläufig gesagt, überzeugen, dass schon die Griechen, und sie gerade am Bewusstesten, an gewissen Bildnissstatuen eine Idealtracht darstellten. Man würde sehr irren, wenn man glaubte, Euripides und Demosthenes seien wirklich halb- nackt in den Gassen von Athen herumgegangen. Allein diese Ideal- tracht ist eine vereinfachte wirkliche, es ist der Mantel ohne das Unterkleid. Und nicht jede Tracht lässt sich so vereinfachen! mit der unsrigen wollen wir nicht einmal zum Versuche rathen. Unter den sitzenden, meist ganz bekleideten Statuen nehmen die beiden Komödiendichter im Vatican (Galeria delle Statue): Me- nander und Posidippus eine bedeutende Stelle ein; zumal der Erstere, der in Stellung und Miene so fein philiströs, so ernst und gemüthlich erscheint; je nach den Umständen wird er als Buffone oder als hohe geistige Macht auftreten. d Im Palast Spada zu Rom (erster unterer Saal): Aristoteles, horchend, nachdenkend, mit scharfen, grämlichen, ehemals schönen Zügen (die Augen ungleich); Stellung und Gewand ganz anspruchlos. Die Benennung gilt für sicher. 1) Statt der Rolle in den Händen richtiger mit verschränkten Fingern zu re- stauriren. [Br.]

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 510. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/532>, abgerufen am 16.07.2024.